Interview mit P. Christian Braunigger SJ, dem neuen Missionsprokurator und Leiter des Hilfswerks jesuitenweltweit, darüber was Arme ihn gelehrt haben und warum er Solidarität mit wildfremden Menschen im Grunde für ein Geschenk Gottes hält.
P. Braunigger, in welche Zeit fällt der Stabswechsel bei jesuitenweltweit?
Es ist eine Zeit des Umbruchs. Die kirchlichen Institutionen verlieren an Vertrauen, Zuspruch und Unterstützung, die Kirchenbindung nimmt in der Gesellschaft ab. Das merken auch wir als christliches Hilfswerk, die Zahl der Spender geht zurück. Aber darin liegt auch eine Chance: Wir werden zukünftig vermutlich Schwerpunkte überdenken müssen und uns überlegen, welche Art von Projekten uns im komplexen Weltgeschehen wichtig sind.
Und was könnte das sein?
Das wird sich Schritt für Schritt ergeben. Ich spreche seit meinem Start im September mit sehr vielen Menschen: den Mitarbeitern natürlich, Projektpartnern, und auch mit vielen Spendern habe ich telefoniert. Bei ihnen spüre ich eine sehr große Verbundenheit. Einige haben mich willkommen geheißen, das zeigt, dass sie jesuitenweltweit als ihre Organisation betrachten, in die ich neu hinzugekommen bin. Nach einem Konzert zeichnete mir eine Dame das Kreuzzeichen auf die Stirn und sagte: „Der Herr möge Sie und die Arbeit für die Armen der Welt segnen!“ Solche Momente und Zeichen haben mich sehr berührt und gefreut. Und sie haben mir gezeigt: unsere Spender schätzen unsere Arbeit.
Glauben verkünden, um Fundamentalismus zu vermeiden
Wie steht es um den Gottesbezug Ihrer Arbeit in einer immer säkulareren Gesellschaft?
Der muss bleiben, auch und vielleicht auch gerade in einer mehr und mehr säkularen Welt. Wir sind eben nicht irgendein Hilfswerk, sondern das eines christlichen Ordens. Bestimmt 95% unserer Spender unterstützen uns, weil sie in ihrem Leben Jesuiten erlebt haben: in der Jugendarbeit, als Studentenpfarrer, bei Exerzitien, es gibt da ganz unterschiedliche Bezüge. Aber allen gemein ist eine positive Grunderfahrung mit dem Orden. Vielen Spendern ist es auch wichtig, dass wir die Menschen in den Projekten auch pastoral unterstützen. Es gibt sogar welche, die selbst nicht gläubig sind, denen das aber trotzdem wichtig ist. Einer sagte mir, er sei Agnostiker, aber ihm sei es wichtig, dass Jesuiten auch den Glauben verkünden. Als ich ihn fragte, warum, sagte er: um Fundamentalismus zu vermeiden. Der Mann versteht, dass es ein Grundbedürfnis des Menschen nach Glauben und Religion gibt, und er denkt offenbar, dass wir Jesuiten das ganz vernünftig handhaben.
Hinzu kommt die spezifisch christliche Komponente: Gott ist auf dem Weg mit den Menschen, mit Fliehenden, mit Armen, er ist mit ihnen in jeder noch so schlimmen Situation, wie er z.B. mit dem Volk Israel im Exil auf dem Weg war. Dieser Aspekt soll in den geförderten Projekten zum Ausdruck kommen.
Wie verhält es sich mit dem Begriff der Mission heutzutage? jesuitenweltweit war jahrzehntelang die Unterstützungsorganisation deutscher Missionare in Afrika, Asien und Südamerika.
Der Begriff ist sicher schwierig geworden, Missionierung hat keinen guten Klang. Aber wenn wir den ihn zurückführen auf das, was er im Grunde meint, hat auch er Zukunft. Denn Mission bedeutet Sendung. Gott sendet uns zu anderen Menschen, deren Sorgen und Nöte wir verstehen und ernst nehmen wollen.
Traumjob Missionsprokurator?
Ist Ihre neue Funktion für Sie der Traumjob, wenn man das so salopp formulieren darf? In Ihrem Lebenslauf gab es ja durchaus einige Bezugspunkte.
Naja, Destinationen im Orden sind ja kein Wünsch-Dir-Was. Aber tatsächlich war unter den 3 bis 4 Aufgaben, die ich immer nannte, wenn mich der Provinzial fragte, was ich mir vorstellen könne, immer auch jesuitenweltweit. Ich arbeitete aber auch sehr gern als Studentenpfarrer und Lehrer. Und ja, es stimmt, dass es in meiner Ordensbiografie und auch schon davor mehrere Berührungspunkte zu meiner jetzigen Aufgabe gab. So wollte ich schon als Student des Wirtschaftsingenieurwesens ein Praktikum im globalen Süden machen. Damals schrieb ich u.a. die damalige Missionsprokur an, die mir dann Kontakt zum Watershed-Projekt mit P. Robert D’Costa SJ in Indien herstellte, wo ich dann auch tatsächlich eingesetzt wurde. Die extreme Armut in Indien, in den abgelegenen Dörfern ebenso wie in den größeren Städten, die Begegnung mit Kindern, die stundenlag zur Schule gehen müssen oder mit Bettlern mit verstümmelten Gliedmaßen sowie meine Ohnmacht angesichts dieser Not haben mich persönlich stark geprägt und meinen Blick auf die Welt verändert. Das Thema hat mich seither nicht mehr losgelassen.
Die Augen Christi sehen
Schrieben Sie deshalb Ihre Diplomarbeit in Chile?
Eigentlich nicht, mein Diplomthema drehte sich um die Verringerung der CO2-Emissionen in der Industrie Chiles und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Emissionshandel von Treibhausgasen. Es war 2005, und Chile litt unter einer tiefen Wirtschaftskrise mit stark sichtbarer Obdachlosigkeit. Ich engagierte mich nebenbei in einer Herberge, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom chilenischen Armenapostel, dem Hl. Alberto Hurtado SJ, gegründet worden war. Ein Zitat von ihm forderte mich heraus: „Wer einmal die Augen Christi gesehen hat, wird dies niemals vergessen.“ Ich verstand das zunächst nicht ganz. Etwas später spielte ich im mit einem unserer Gäste, wie wir die Obdachlosen nannten, ein Gesellschaftsspiel. Er gewann, und seine Augen strahlten eine so tiefe Freude aus, dass für mich darin die Gegenwart Gottes schlagartig greifbar war. Ich habe diese Begegnung nie mehr vergessen. Es ist ja die gleiche Botschaft, wie sie Jesus seinen Jüngern mitgegeben hat: „Was Ihr einem meiner Geringsten getan habt, dass habt Ihr mir getan!“ Dies ist so herausfordernd wie großartig. Denn konsequenterweise bedeutet das, dass Christus selbst in den Armen auf uns zukommt!
Und diese Botschaft hat Sie dann in den Orden geführt?
Ja, ich habe mich noch während des Studiums entschieden, in den Orden einzutreten. Ich hatte aber noch einige Monate Zeit bis zum Beginn des Noviziats. Der damalige Missionsprokurator P. Peter Balleis SJ schlug mir vor, einige Monate im Team von jesuitenweltweit zu helfen. So lernte ich damals schon ein bisschen das Tagesgeschäft und einzelne Kolleginnen und Kollegen kennen. Außerdem durfte ich an einem Treffen arabischer Jugendlicher in Ägypten teilnehmen, das von jesuitenweltweit gefördert wurde. Ich kam dort in eine der Müllstädte von Kairo, wo Menschen nach verwertbaren Materialien suchen. Ich erinnere mich an den Gestank des Mülls, der nicht nur in den Straßen, sondern auch in den Häusern gelagert wurde. Ich war in der Gruppe, die mit Kindern spielte und sie abends nach Hause brachte. Die Eltern eines Jungen luden mich in ihr kleines Haus ein, und boten mir einen Platz an. Ich ekelte mich. Auf einmal ging der kleine Junge weg und kam nach einigen Minuten mit einer Cola zurück, die sie mir hinstellten. Ich war beschämt – und fühlte mich doch reich beschenkt von dieser Familie. Es gibt ja die Redewendung: Gast im Haus, Gott im Haus. Eine Gastfreundschaft wie die dieser armen Familie verändert die Herzen, und sie veränderte auch mein Herz. Heute weiß ich, dass wir von den Allerärmsten viel lernen können.
Von der Zuversicht der Armen lernen
Nach dem Noviziat und dem Philosophiestudium arbeiteten Sie zwei Jahre mit dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) in Kenia.
Ja, In einem Flüchtlingslager, wo rund 80.000 Menschen lebten. Wir begannen damals als Pioniere mit dem Fernstudienprojekt, das heute als Jesuit Worldwide Learning bekannt ist. Es bietet jungen Menschen in Flüchtlingslagern oder anderen prekären Verhältnissen die große Chance auf Bildung und möglicherweise sogar ein Studium. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Muzabel, einem jungen Studenten aus dem Kongo: Er war wissbegierig und unterstützte mich in der IT-Administration. Einmal erzählte er mir, dass seine Mutter und sein Bruder im Bürgerkrieg vor seinen Augen abgeschlachtet wurden; er selbst entkam. Muzabel war ein gläubiger Christ, und eines Tages fragte ich ihn, wie es für ihn trotz dieser schrecklichen Erfahrung möglich sei, an Gott zu glauben. Darauf erwiderte er, dass für ihn die Erfahrung der Flucht und des Schutzes im Flüchtlingslager eine Auferstehung sei. Ihm sei unerwartet ein neues Leben geschenkt worden. Er könne Gott dafür nur danken. Muzabel strahlte eine große Hoffnung aus, heute engagiert er sich in den USA für Geflüchtete. Auch diese Zuversicht ist etwas, was wir von Menschen wie ihm lernen können.
Was war Ihnen 2022 in Ihrem sechsmonatigen Tertiat in Mexiko wichtig?
Viele Punkte waren mir wichtig. So unterstützte ich auch Mitbrüder im südlichen Bundesstaat Chiapas in der Pastoral für die indigene Bevölkerung. Die Menschen dort stellten mir oft Fragen wie: „Wie sieht dein Dorf aus? Deine Familie lebt nicht vom Kaffeeanbau? Wovon dann?“ Ich wusste nicht recht, was antworten, denn diese Menschen haben keine Vorstellung davon, wie ärmlich ihr Leben ist im Vergleich zu dem in Europa. Abgeschnitten von der Welt existiert meist kein Mobilfunknetz, und es gibt keine Fernseher. Ich besuchte Dörfer, hörte Beichte, spendete die Krankensalbung und feierte die Messe. Zwar sprechen die Menschen dort nur wenig oder kein Spanisch und ich beherrsche lediglich einige Floskeln in ihrer Sprache Tzeltal. Trotzdem gingen viele getröstet und gestärkt weg. Es gibt dort ja kaum medizinische Infrastruktur, und Arztbesuche kann sich kaum jemand leisten. Der Zuspruch, dass Gott im Sakrament die Kranken durch den Heiligen Geist stärkt, führte regelmäßig zu Tränen.
Solidarität unter Menschen ist ein Geschenk Gottes
Was ist für Sie das Wichtigste an dem Engagement für die Armen?
Dass wir wirklich mit den Armen unterwegs sind und ihnen nicht nur gegenüberstehen. Das ist echte Solidarität. Ein Jugendlicher in Venezuela, dessen Schule wir unterstützten, sagte mir bei einem Projektbesuch, er finde es völlig unglaublich, dass Menschen weit weg, die die Schule, die Schüler und ihre Familien, nicht kennen, trotzdem für seine Schule spenden. Was bewege diese Menschen? Ich war verblüfft und erfreut über diese Sichtweise. Unsere Spender engagieren sich tatsächlich für Menschen auf der anderen Seite der Welt, ohne lokale Nähe, ohne einen konkreten Bezug, ohne irgendwelche Nutzenerwägungen. Sie wollen teilen von dem, was sie haben, das ist ihre Motivation. Heute würde ich sagen: dass wir Menschen das können, das ist ein Geschenk Gottes.
Was macht für Sie den Reiz der neuen Aufgabe als Leiter aus?
Neben den Inhalten unserer Projekte, liegt der große Reiz für mich darin, dass die neue Funktion ein extrem vielfältiges Aufgabenfeld bietet. Es gilt Fragen der Bilanzierung in den Blick zu nehmen, über die Ausrichtung des Freiwilligendienstes zu diskutieren, den Kontakt zu Spendern und Projektpartnern, Mitarbeiterführung… Diese Vielfalt finde ich sehr spannend.
Marktanreize statt Hilfsgelder?
Wer durch Entwicklungsländer reist, sieht immer auch gescheiterte Projekte. Sie sind Wirtschaftsingenieur – würden Sie sagen, dass man durch Marktanreize Projekte besser und womöglich nachhaltiger machen kann?
Zum Teil ja, das ist schon eine Frage, die ich mir stelle. Einige wenige Partner erwecken den Eindruck, als glaubten sie, das Geld wachse in Europa auf den Bäumen. Es kann da schon auch einmal utopische Projektvorschläge geben. Vielleicht gibt es in einigen Situationen die Möglichkeit, Kredite statt reiner Hilfsgelder an Projektpartner zu vergeben. Zinslos zwar, aber wenn erfolgreiche Projekte Erträge bringen, dann wären die Kredite zurückzuzahlen. Überdimensionierte Solaranlagen zum Beispiel, wie sie ab und an als Projektanträge kommen, würden so bereits im Vorfeld verhindert, wenn die Überdimensionierung Konsequenzen hat. Aber klar ist auch, dass so etwas nur bei wenigen Projekttypen funktioniert.
Wo wird sich die Entwicklungshilfe hin entwickeln, welche Trends sehen Sie?
Projekte im Bereich des Klimaschutzes bzw. zur Verminderung der Folgen des Klimawandels werden immer wichtiger. So besteht die Herausforderung, wie die Arbeits- und Lebenssituation der Menschen im Globalen Süden angepasst werden muss. Auch bei unseren Projekten spielt dies eine wichtige Rolle, wie z.B. in Sambia im Landwirtschaftsprojekt Kasisi, welches von P. Claus Recktenwald SJ geleitet wird. Vielleicht könnte für einige Länder auch der Ausbau von Erneuerbaren Energien und dem Bau etwa von Wasserstofffabriken eine Chance darstellen. Die Frage ist jedoch, ob die Bevölkerung davon profitieren kann. Ein Anliegen der Entwicklungshilfe ist sicherlich die Fluchtursachen zu bekämpfen.
Das ist ja seit langem das Ziel westlicher Entwicklungshilfe, aber mal ehrlich: ist das überhaupt möglich?
Die Fluchtursachen sind sehr vielfältig – seien es Naturkatastrophen, auch als Folge des Klimawandels, Kriege oder komplexe politische und ökonomische Situationen in den Herkunftsländern. In Mexiko warten Hunderttausende Menschen aus Ländern wie Haiti, Kuba, Nicaragua oder Venezuela nur auf die passende Gelegenheit, in die USA zu kommen. In Panama gibt es ein Gebiet, das man Urwald des Todes nennt, trotzdem versuchen Tausende Menschen, ihn zu durchqueren. Das ist vergleichbar mit dem Marsch vieler Afrikaner durch die Sahara in Richtung Mittelmeerküste. So lange ihre Heimatländer politisch instabil, korrumpiert und damit ökonomisch erfolglos bleiben, wird sich daran nichts ändern, auch wenn viele Flüchtlinge utopische Vorstellungen von einem besseren Leben in den USA oder in Europa haben. Ein Venezolaner in Mexiko sagte mir: Lieber sterbe ich auf dem Weg, als zu Hause dahinzusiechen.
Was macht Ihnen angesichts dieser Situation Mut?
Die Hoffnung, nein die Erfahrung, dass es viele Menschen gibt, denen diese Schicksale nicht gleichgültig sind.
Interview: Gerd Henghuber und Steffen Windschall