Freispruch
Schwester Juliana Seelmann aus dem unterfränkischen Kloster Oberzell sowie alle kirchlichen Entscheidungsträger in bayerischen Pfarrgemeinden und Ordensgemeinschaften, die bisher noch unsicher waren, ob sie mit der Gewährung von Kirchenasyl Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt leisten, können aufatmen.
Mit einem Freispruch des Landgerichts (LG) Würzburg vom 14.7.2022 endete das Berufungsverfahren von Sr Seelmann. Im Juni 2021 hatte sie vom Amtsgericht Würzburg eine Verwarnung mit Strafvorbehalt – 600 EUR Geldstrafe ausgesetzt auf zwei Jahre Bewährung - erhalten. Dagegen hatte sie wie auch die Staatsanwaltschaft, der das Strafmaß zu gering war, Berufung eingelegt.
Das LG Würzburg orientierte sich nun an der Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) München, das im Fall Bruder Abraham Sauer aus Münsterschwarzach bereits mit Urteil vom 25.2.2022 entschieden hatte, dass unter bestimmten Voraussetzungen keine Beihilfe zu unerlaubtem Aufenthalt vorliege. Während der Prüfung des gemäß Vereinbarung eingereichten Härtefalldossiers habe der betroffene Flüchtling einen Duldungsanspruch, und somit scheide eine Strafbarkeit des kirchlichen Entscheidungsträgers in dieser Prüfungsphase aus, so das BayObLG bezugnehmend auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) München vom 3.5.2018.
Spannend ist jedoch die Beurteilung der zweiten Phase, nämlich wenn das Kirchenasyl nach Ablehnung des Dossiers fortgeführt wird. Dann bittet das BAMF regelmäßig um Mitteilung, ob der oder die Geflüchtete das Kirchenasyl innerhalb von drei Tagen verlassen habe. In den allermeisten Fällen geschieht dies nicht und wird entsprechend an das BAMF gemeldet. Ab dem vierten Tag entfällt also der Duldungsanspruch des im Kirchenasyl befindlichen Flüchtlings, d. h. er oder sie hält sich unerlaubt auf.
Vor diesem Hintergrund stellte sich in den Verhandlungen von Br Abraham und Sr Seelmann die Frage, ob sie sich mit der weiteren Gewährung von Kirchenasyl strafbar gemacht hatten. Konkret: Hatten sie nach Dossierablehnung dem oder der Geflüchteten zugeredet zu bleiben? Oder beschränkten sie sich darauf, über die neueingetretene Situation (neutral) zu informieren und die Entscheidung ganz und gar dem Flüchtling zu überlassen? Wenn letzteres zutreffe, handele es sich nicht um eine strafbare Hilfeleistung zum unerlaubten Aufenthalt, so das LG Würzburg mit Verweis auf die Entscheidung des BayObLG. Sr Seelmann und Br Abraham konnten glaubhaft machen, dass sie keinen Einfluss auf den weiteren Verbleib der im Kirchenasyl befindlichen Flüchtlinge genommen hatten. In Sr Seelmanns Verhandlung wurde nicht nur sie selbst befragt, sondern als Zeugin auch die seinerzeit betroffene Nigerianerin. Als Ergebnis heißt es in der Urteilsbegründung des LG Würzburg: „Die Kammer (…) hat sich aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme, insbesondere der Einlassung der Angeklagten und den Angaben der vernommenen Zeugin [NN], nicht davon überzeugen können, dass die Angeklagte nach der negativen Härtefallentscheidung über die bloße Gewährung von Unterkunft und Verpflegung hinaus den Verbleib der anderweitig Verfolgten [NN] im Kirchenasyl aktiv verstärkt hätte oder eine Absprache über einen Verbleib im Kirchenasyl auch im Falle einer negativen Härtefallentscheidung getroffen worden wäre.“
Fazit: Zur Vermeidung strafrechtlicher Folgen bei der Gewährung von Kirchenasyl geht es nicht darum, sich auf eine etwaige Gewissensentscheidung zu berufen. Sondern es kommt schlicht darauf an, das Härtefalldossier korrekt einzureichen (spätestens einen Monat nach Beginn des Kirchenasyls und mindestens zwei Wochen und einen Tag vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist) und schließlich die negative Dossierentscheidung dem oder der Schutzsuchenden neutral zu vermitteln. Dass mit einem Verbleib im Kirchenasyl ihm oder ihr dann strafrechtliche Konsequenzen drohen können, hatte bereits das OLG München 2018 entschieden.
Entwicklung der Rechtsprechung
Von Anfang an stellte sich die Frage, ob es sich bei Kirchenasyl um einen Rechtsbruch handele – und zwar sowohl im strafrechtliche Sinne (Tatvorwurf des unerlaubten Aufenthaltes und der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt durch die asylgewährende Gemeinschaft) als auch im verwaltungsrechtlichen Sinne („flüchtig sein“). Letzteres hat direkte Auswirkungen auf die Rücküberstellungsfrist.
Zum unerlaubten Aufenthalt während eines Kirchenasyl gibt es eine obergerichtliche Entscheidung vom OLG München vom 3.5.2018, die den Flüchtling freispricht, da das Gericht davon ausging, dass das BAMF im fraglichen Zeitraum noch mit der Prüfung des Dossier befasst war. Im Umkehrschluss heißt das, dass mit Ablehnung des Dossiers (oder wenn keines eingereicht wird) und mit weiterem Verbleib des Flüchtlings im Kirchenasyl der Straftatbestand des unerlaubten Aufenthalts vorliegen könnte.
Zum Tatvorwurf der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt liegen bisher nur wenige gerichtliche Entscheidungen vor. Zwar gab es besonders in Bayern seit 2017 hunderte Ermittlungsverfahren gegen PfarrerInnen und Ordensleute, diese wurden aber ohne Konsequenzen für die Betroffenen eingestellt. Im September 2019 kam es zu einer Gerichtsverhandlung, in deren Verlauf einem evangelischen Pfarrer im bayerischen Immenstadt die Einstellung jedoch nur gegen eine Geldauflage i. H. v. 3.000 EUR gewährt wurde. Demgegenüber hatte das LG Bad Kreuznach mit Beschluss vom 05.04.2019 im Fall eines Pfarrers, dessen Räume wegen der angeblichen Beihilfe durchsucht worden waren, den Durchsuchungsbeschluss ausdrücklich wieder aufgehoben, weil die Gewährung von Kirchenasyl keine strafbare Handlung darstelle. Am 26. April 2021 schließlich wurde der Benediktinerbruder Abraham Sauer vom Amtsgericht Kitzingen freigesprochen vom Vorwurf, Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt geleistet zu haben, da er glaubhaft aus Glaubens- und Gewissensfreiheit gehandelt habe. Nachdem die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt hatte, kam es zur Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 25.2.22 (mehr dazu oben im Beitrag "Freispruch").
Zur Frage des „flüchtig sein“ im verwaltungsrechtlichen Sinne ist mittlerweile klar: Das Aufsuchen eines Kirchenasyls ist nicht mit „flüchtig sein“ gleichzusetzen, eine Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-Verordnung auf achtzehn Monate kommt nicht in Betracht. Zahlreiche Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte, schließlich im Juni 2020 das Bundesverwaltungsgericht, haben entsprechend entschieden, stets mit dem Hinweis, die Adresse sei ja bekannt und ein Verzicht auf die Abschiebung sei nicht dem Flüchtling anzulasten.
In einem Urteil vom 29.7.2019, in dem es gar nicht um einen Kirchenasylfall geht, hält der VGH Baden-Württemberg nebenbei fest, dass Kirchenasyl nicht mit „flüchtig sein“ gleichzusetzen sei, deutet aber gleichzeitig an, dass das BAMF einzelfallbezogen und im Ermessenswege die Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO aussetzen könne, sodass die 6 Monatsfrist unterbrochen würde und nach Beendigung des Kirchenasyls wieder neu liefe. Ob eine solche Aussetzung bei Kirchenasyl gerechtfertigt wäre, ist bisher nicht gerichtlich geklärt.
Eine Übersicht über die Rechtsprechung findet sich bei der BAG Asyl in der Kirche oder auf den Seiten des Informationsverbund Asyl & Migration.