P. Klaus Mertes SJ über post-digitale Schule

In den "Stimmen der Zeit" (Heft 11/2023) spricht sich Klaus Mertes SJ für die post-digitale Schule aus. Was er darunter versteht, warum analoge Beziehungen an Bedeutung zunehmen werden und warum in einer post-digitalen Schule die Digitalisierung selbst Gegenstand des analog zu führenden Diskurses sein muss, erklärt er in seinem Editorial:

Ich plädiere für die post-digitale Schule. Der Begriff bedeutet genauso wenig zurück in die vor-digitale Schule, wie postmodern zurück in die Vormoderne bedeutet. Post-digitale Schule bedeutet vielmehr, dass analoge Interaktion in Kitas und Schulen im digitalen Zeitalter noch wichtiger geworden ist als vorher. „Schulen, Ausbildungsstätten und Universitäten werden künftig den analogen präsenzpflichtigen Unterricht und das mündliche Prüfungswesen wieder stärker in den Vordergrund stellen müssen“, denn: „Der bedeutsamste Garant von Realität für den Menschen ist der analoge andere Mensch, dem ich in die Augen schauen kann, während er mit mir spricht“ (Joachim Bauer: Realitätsverlust. Freiburg 2023, 143, 146).

Analoge Beziehung gewinnt in dem Maße an Bedeutung, wie digitale Medien mehr und mehr unsere Lebensbereiche irreversibel prägen. Je mehr digitale Medien Lernprozesse prägen, umso wichtiger wird die analoge Begegnung in der Schule, zwischen Lehrenden und Lernenden, aber auch zwischen Kindern und Jugendlichen untereinander – wie zuletzt die Kita- und Schulschließungen während der Corona-Zeit gezeigt haben. Dass es sich so verhält, hängt mit der simplen, aber spielentscheidenden Tatsache zusammen, dass gelingendes Lernen nur zu einem geringen Teil von der gewählten Lern- oder Unterrichtsmethode oder von Tools aller Art abhängt, dafür aber umso mehr von der Qualität der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden. Diese setzt analoge Präsenz voraus.

In der post-digitalen Schule wird die Digitalisierung selbst zum Gegenstand des analog zu führenden Diskurses. Große Fragen stehen mit neuer Aktualität an. Sie beschäftigen Kinder und Jugendliche jeweils altersgemäß. Ist der Körper eine Maschine? Sind Bewusstsein und Intelligenz dasselbe? Ist physische Unsterblichkeit erstrebenswert? Ist ethische Urteilsfähigkeit programmierbar? Was unterscheidet eine Meinungsäußerung von einem Argument? Was bedeutet der Verlust eines gemeinsamen öffentlichen Raumes im Internet für die Demokratie? Und so weiter. Es stapeln sich zudem neue Aufgaben für Intervention und Prävention angesichts der Missbrauchsmöglichkeiten von sozialen Medien und Internet in einer neuen, bisher nicht gekannten Dimension. Der Lehrberuf ist angesichts dieser Entwicklungen existentiell auf eine neue Weise herausgefordert.

Digitale Ausstattung der Schule verändert auch das Profil des Lehrberufes: Je mehr digitale Technik in der Schule steht und den Unterricht mittragen soll, umso mehr hängt gelingender Unterricht daran, dass die Technik funktioniert. Die technischen Aufgaben absorbieren Zeit und Energie der Lehrkräfte. Sie gehen für das eigentliche unterrichtliche Geschehen verloren. Schule digital auszustatten bedeutet also mehr, als bloß Tablets zur Verfügung zu stellen, das Gebäude mit WLAN auszustatten und Whiteboards in den Klassenräumen aufzustellen. Ist dies geschafft, ist die Schule noch lange nicht „digitalisiert“. In der post-digitalen Schule muss deswegen die personale Ausstattung der Schule neu geordnet werden. Der Unterricht braucht mehr technische und auch verwaltungsmäßige Dienstleistungen im Hintergrund, die zugleich auch pädagogisches Verständnis mitbringen, weil gerade in der Schule Pädagogik und Technik nicht fein säuberlich zu trennen sind.

Im Zentrum der PISA-Studien stehen Lesekompetenz, mathematische Kompetenz und naturwissenschaftliche Kompetenz. Sie sind notwendig, um „Literacy“ zu erwerben, also eine funktionale Grundbildung, die sowohl anwendbar ist für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben als auch anschlussfähig für lebenslanges Weiterlernen. Dazu gehört auch digitale Bildung. So weit, so gut. Das Tempo der digitalen Entwicklung allerdings, einschließlich der Disruptionen, die sie mit sich bringt, ruft gleichzeitig nach Langsamkeit als Freiraum für ein anderes Lernen, dem das Lerntempo nicht einfach von außen vorgegeben wird. Langsamkeit aber steht oft in Spannung zu den funktionalen Zwecken, die planmäßig erreicht werden müssen.

"Die post-digitale Schule ist offen für die Frage nach Gott."

Die Beschleunigungseffekte fordern Schule als Ort der Muße heraus: Ausstieg aus dem Zwang zur permanenten Erreichbarkeit. Unerreichbarkeit wagen, um wieder erreichbar zu werden. Zeiten des Atemholens in der Schule einräumen, Körperwahrnehmung, Innenwahrnehmung, Stille, insbesondere gemeinsame Stille, nicht bloß äußerliche Stille, die durch disziplinarischen Druck erzwungen wird. Stille-Kompetenz als Teil der Schulkultur, die wiederum Voraussetzung ist für eine Kultur des Hörens, die nicht bloß anhört, sondern zugleich, wenn sie hört, nach innen hört und so die Qualität der Kommunikation weit hinaushebt über das, was Maschinen können. So etwas kann mit einfachsten Mitteln eingeübt werden, in der Lerngruppe ebenso wie bei größeren Versammlungen, bei Konferenzen oder bei besonderen Anlässen, vor allem bei denen, die sprachlos machen und die jede Schule heimsuchen können. Post-digitale Schule ist offen für die spirituelle Dimension. Gerade die Aufmerksamkeit nach innen öffnet für die selbst-transzendierenden inneren Reaktionen, die dann auch Teil des Bildungsdiskurses werden können. Die post-digitale Schule ist offen für die Frage nach Gott.

Bild 1: Kolleg St. Blasien

Partner

Spenden

Das Magazin „Jesuiten“ erscheint mit Ausgaben für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Bitte wählen Sie Ihre Region aus:

×
- ×