„Jesuitenschulen mit immer weniger Jesuiten? Natürlich geht das!“

Gabriele Hüdepohl ist die neue Delegatin in der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten für die Schulen des Ordens. Als erste Laiin und als erste Frau trägt sie länderübergreifend die Verantwortung für die Entwicklung und Zusammenarbeit der insgesamt zwölf Schulen in der Ordensprovinz: drei Jesuiten- und vier Netzwerkschulen in Deutschland, zwei Netzwerkschulen in Österreich und drei Jesuitenschulen in Litauen. Ein Interview mit ihr über den Markenkern der Jesuitenschulen, warum gute Entscheidungen für junge Menschen immer wichtiger werden und wie sie lernen, die Balkonperspektive auf ihr Leben einzunehmen.

Frau Hüdepohl, was hat sie an dieser Aufgabe gereizt?

Gabriele Hüdepohl: Ich bin Lehrerin und war lange Schulleiterin. Ich bleibe also bei meinem Traumjob, wenn man so will: der Schule, den Schülerinnen und Schülern. Es ist für mich eines der spannendsten Aufgabenfelder, die es in unserer Gesellschaft gibt, junge Menschen auf ihrem Weg der Welterkundung und Bildung zu begleiten. In der neuen Aufgabe nehme ich nun eine andere Perspektive darauf ein. Das hat mich gereizt.

Was sind die Herausforderungen, was haben Sie sich vorgenommen?

Ich möchte die zwölf Schulen in den Ländern der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten noch stärker miteinander vernetzen und auch um weitere Schulen erweitern. Die Verbindung und der Austausch zwischen den deutschsprachigen Schulen in Deutschland und Österreich und den Schulen in Litauen ist dabei sicher eine Herausforderung, die ich aber sehr spannend finde. Ziel ist es, dass die Schulen Unterstützung finden, ihr Profil stärken und weiterentwickeln. Dabei arbeiten wir eng mit dem Zentrum für Ignatianische Pädagogik in Ludwigshafen zusammen, dem Kompetenzzentrum des Ordens für Bildung.

Geht das denn, das Profil von Jesuitenschulen stärken, ohne – oder mit immer weniger Jesuiten?

Was heißt ohne? Jesuiten als Lehrer, als Seelsorger, oder in der Leitung von Schulen? In Belgien sind Patres seit langem schon fast nur noch in den Aufsichtsgremien der Schulen vertreten. Das ist sicher nicht optimal. Die Schulen bleiben dennoch unverkennbar ignatianisch. Natürlich sollen und werden sich Jesuiten in unseren Schulen weiterhin stark einbringen – soweit es halt angesichts eines kleiner werdenden Ordens geht. Die ignatianische Bildungstradition und die jesuitischen Prinzipien sind allerdings so stark und wertvoll, dass sie auch weit über den Orden hinauswirken. So gibt es viele Frauen und Männer, die die ignatianische Spiritualität kennen, sie leben, die Schulen prägen. Unsere Schulen haben in der Erziehungstradition und in der Spiritualität der Jesuiten ein einzigartiges Profil in der Schullandschaft. Und genau das wollen wir fördern und stärken: dass unsere Schulen auch mit weniger aktiv dort tätigen Patres ihren Markenkern bewahren und ausbauen. Vielleicht etwas altmodisch ausgedrückt: im Dienst an einer lebenswerten Welt für alle.

Was ist das genau, das speziell jesuitische Bildungsprofil?

Bildung gehört seit Jahrhunderten zur DNA der Gesellschaft Jesu – neben der Weitergabe des Glaubens. Dabei sind Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung eng miteinander verbunden. Ziel ist es, dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur fachlich gut vorbereitet werden auf ihr Leben, sondern unsere Schulen auch als unterscheidungs- und entscheidungsfähige und verantwortungsbereite junge Menschen verlassen.

Was heißt das konkret?

Was die Jesuitenschulen besonders auszeichnet, sind in meinen Augen vier Aspekte: Zum einen stärken wir Schülerinnen und Schüler in der Erfahrung ihrer Würde. Zum anderen ist es nicht unser Ziel, dass die Schüler möglichst viel lernen, sondern dass sie immer auch über den Sinn des Gelernten nachdenken, sich vertieft damit befassen, es hinterfragen und reflektieren, ganz in der jesuitischen Ordenstradition. Drittens ist es uns wichtig, Gerechtigkeit in der kleinen und großen Welt in den Blick zu nehmen, sei es bei der Notengebung oder beim Thema Armut. Und viertens wollen wir die Frage nach Gott wachhalten. Die genannten Punkte gelten selbstverständlich nicht nur in unseren Schulen, sie sind also nicht exklusiv, aber für uns entscheidend.

Würde stärken, was bedeutet das?

Die Schülerinnen und Schüler werden ernst genommen. Schülerrechte sind uns z.B. wichtig, sie werden auch darüber aufgeklärt und finden Unterstützung, wenn sie in ihren Rechten verletzt werden. Verletzung der Würde wird wahrgenommen und thematisiert, auch durch Mitschüler oder auch Lehrerinnen.

Und dann passierte ausgerechnet in Jesuitenschulen Missbrauch.

Ja, schrecklich, beschämend. Ich war Schulleiterin in Berlin am Canisius Kolleg, als 2010 die Fälle dort bekannt wurden.

Würden Sie sagen, dass die Aufarbeitung abgeschlossen ist?

Die Aufarbeitung in Schulen, in der Kirche ist sicher nicht abgeschlossen. Die bekannten Fälle der Vergangenheit in unseren Schulen kann man wohl weitgehend als abgeschlossen bezeichnen, was die Aufklärung, Dokumentation und ich hoffe - so gut es geht - auch Wiedergutmachung angeht. Aber natürlich ist das Thema auch da nicht abgeschlossen, denn zahlreiche Menschen, ehemalige Schüler, müssen mit ihren Erfahrungen weiterleben, und viele leiden schwer unter den Folgen. Genauso bleibt das Thema Teil der Geschichte der Schulen, und uns ist es sehr wichtig, dass wir es in Erinnerung halten, auch wenn es eine furchtbare ist. Es mahnt uns, aufmerksam zu bleiben dafür, dass sexualisierte Gewalt geschieht, in der Schule, auch unter Gleichaltrigen, aber auch in Familien, im Sportverein, im Internet. Und dass wir durch Präventionskonzepte, Fortbildungen, Ansprechpersonen und eine offene Kultur in den Schulen Übergriffe dort künftig möglichst verhindern und auf keinen Fall wegschauen, sondern intervenieren.

Zu Ihrem vierten Aspekt – die Frage nach Gott wachhalten – geht das in einer zunehmend säkularen Welt?

Natürlich nicht in der Form, dass wir jemandem ein Bekenntnis abverlangen, aber tatsächlich entscheiden sich viele Schüler und ihre Eltern für eine Jesuitenschule, eben weil dort die Frage nach Gott gestellt wird. Ignatius war der Überzeugung, Gott ist in allen Dingen zu finden, und das ist letztlich auch die Grundlage der Spiritualität und Pädagogik. Dem begegnen unsere Schülerinnen immer wieder im Schulalltag, sie sollen sich damit auseinandersetzen und für sich eine Antwort finden können – anstatt die fürs Menschsein so wichtige Gottesfrage beiseitezuschieben, sie abzutun oder zu ignorieren. So gibt es in den Jesuitenschulen sowohl seelsorgerische Angebote als auch intellektuelle wie spirituelle Angebote, die Raum schaffen für Nachfragen und Argumentieren, für religiöse Erfahrungen. Zeiten – Orte der Stille zum Beispiel: Stille, die ja die Basis dafür ist, gemeinsam zu schweigen, zu hören, in sich hineinzuhorchen, sich berühren zu lassen, der Entwicklung von Fragen Zeit geben. Ob Erfahrungen, ob intellektuelle Anregungen auch persönlich zur Frage nach Gott führen, ob sie Antworten geben, das muss jede und jeder für sich selbst beantworten, in aller Freiheit.

Es kommt noch ein weiterer Aspekt dazu: Sprachfähig zu sein, über Religion, meinen Glauben Bescheid zu wissen, darüber Auskunft geben zu können – auch gegenüber andersglaubenden Menschen. Das halte ich für sehr wichtig, gerade in unserer Zeit, in der wir mit Menschen uns oft fremder Religionen und Weltanschauungen zusammenleben.

Was ist das für eine Generation, die heute an den Jesuitenschulen ist, können Sie sie beschreiben?

Das ist schwer zu sagen, ich sehe da sehr unterschiedliche Facetten. Es gibt sehr interessierte, neugierige Schülerinnen und Schüler, die die Welt entdecken wollen und sich engagieren für andere. Allerdings spüren wir schon auch, wie diese jungen Menschen in den Jahren der Pandemie belastet wurden: das viele Zuhause sein, allein, in einem Alter, in dem man eigentlich die Welt erobern möchte. Und dann belasten die vielen Kriege und Krisen auch die jungen Leute. Viele machen sich Sorgen um die Zukunft.

Dabei hat diese Generation, gerade auch wenn man gut ausgebildet ist, ganz viele Möglichkeiten. Es sind so viele, dass das auch Schüler überfordert. Die anstehende Entscheidung, was man studieren möchte, macht manchen Angst. Umso wichtiger ist es, dass unsere Schülerinnen lernen zu unterscheiden – und entscheiden, dass sie Selbstvertrauen und Zuversicht entwickeln können. Entscheidungen, die sie immer selbständiger werdend gerade nach der Schule treffen, sind wichtig, geben ihrem Leben die weitere Richtung, haben Konsequenzen, die sie selbst und andere tragen müssen. Und auch das ist Teil des jesuitischen Profils: für gute Entscheidungen, für die Unterscheidung der Geister, wie Ignatius das genannt hat, haben die Jesuiten ein sehr gutes Instrumentarium.

Können das bereits Kinder und Jugendliche?

Wir versuchen sehr bewusst, das zu schulen. Normalerweise ist Schule stark durchgetaktet: ein Fach folgt auf das andere, eine Aufgabe der nächsten, man braucht darüber nicht nachzudenken. Deshalb lassen wir in unseren Schulen Unterbrechungen zu, ja bauen sie bewusst in den Schulalltag ein, in denen zur Ruhe kommen möglich ist, Reflektieren, den Gefühlen nachspüren, Betrachten. Anstatt immer mittendrin im Geschehen und davon getrieben zu sein, sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, die Balkonperspektive auf sich selbst einzunehmen, wie ich das gern nenne: also die Betrachtung von oben, was da eigentlich geschieht auf der Tanzfläche meines Lebens, was und wie tanze ich da und mit wem? Und dann auch die Innenperspektive: Wie fühlt sich das an? Dem dienen auch die Examen, das sind Formate des Rückblicks, allein am Abend, gemeinsam am Ende der Woche, des Schuljahres oder bei Oasentagen: Wem bin ich begegnet? Was hat mich berührt? Wo stoße ich auf Widerstände? Wofür bin ich dankbar? Welche inneren Stimmen höre ich? Diese Betrachtungen sind wichtig fürs ganze Leben und können auch ein Leben lange gelebt und geübt werden, mit oder ohne religiösen Bezug – quasi die Jesuitenschule fürs ganze Leben.

Interview: Gerd Henghuber

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