Wie geht es eigentlich den Menschen in Syrien?

Frater Baumgartner, die Lage der Menschen in Syrien ist etwas in den Hintergrund getreten in der öffentlichen Wahrnehmung, teilen Sie den Eindruck.

Gerald Baumgartner SJ: Ja, definitiv, die Welt schaut nicht mehr hin, was für eine humanitäre Katastrophe sich in Syrien weiterhin abspielt, quasi im Stillen. Das teilen die Menschen in Syrien freilich mit denen in vielen anderen Krisengegenden der Welt, der Mensch hat da offenbar nur eine begrenzte Aufmerksamkeits-Kapazität. Was kriegen wir zum Beispiel aktuell vom Krieg im Sudan oder im Jemen mit? Wir wundern uns nur, wenn wieder viele Flüchtlinge aus diesen Ländern bei uns ankommen und reden dann von Prävention und Zukunftsperspektiven vor Ort, die es brauche. In einem Land wie Syrien finden die meisten jungen Menschen aber keine Perspektive.

Und wollen weg?

Ja. Von den 170 jungen Frauen und Männern, mit denen ich gearbeitet habe, haben bei einer Umfrage nur zwei gesagt, dass sie bleiben wollen. 30 sind nach meinen Informationen bereits weg, bei den anderen ist es nur eine Frage der Zeit.

Es ist also nicht das deutsche oder österreichische Sozialsystem, das sie anzieht?

Eindeutig nein. Es ist die Tragödie ihres Landes, das ihnen keine Zukunft ermöglicht, jeder von uns würde sich das auch überlegen.

Sie haben in Ihrem letzten Interview von Ihrer Arbeit mit den jungen Menschen in Homs erzählt, von den Sommerlagern, der Essensausgabe für die Erdbebenopfer und dem geschützten Raum, den Sie in der Jesuitenkommunität angeboten haben. Ist es nicht frustrierend, wenn diese Menschen nun alle ihr Land verlassen?

Das Ziel meiner Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen formuliere ich als „Erziehung zu Botschaftern des Friedens“. Meine Mitarbeiter und ich versuchten den jungen Menschen einen Raum zu geben, in dem sie als Menschen und im Glauben an die unbedingte Liebe Gottes wachsen können und dadurch zu Friedensstiftern in der Gesellschaft werden. Auch wenn es mich immer etwas schmerzt, wenn sich wieder einer von ihnen gezwungen sieht sein geliebtes Land zu verlassen, vertraue ich, dass sie auch in europäischen Ländern solche Botschafter des Friedens sein können.

Stimmt es eigentlich, was man so liest, dass sich eher die Bessergestellten auf den gefährlichen Weg nach Europa machen?

Ja. Eine Flucht über die in letzter Zeit stark genutzte Belarus-Route kostete nach meiner Information vor einem Jahr etwa 7.000,- bis 8.000,- US-Dollar. Das kann sich nur leisten, wer über Besitz verfügt, in der Regel ein Haus. Das wird dann verkauft, um wenigstens einem Kind der Familie die Flucht nach Europa zu ermöglichen, von wo aus es dann die Familie unterstützen soll. Es sind also die gebildeten, bessergestellten Syrer der Mittelschicht, die kommen. Eine Bekannte von mir macht gerade in Deutschland die F1-Prüfung als Apothekerin. In Syrien wird diese Frau fehlen.

Wie ist aktuell die Wirtschaftslage, eigentlich müsste es nach einem Krieg doch einen Wiederaufbau-Boom geben?

Den gibt es leider nicht. Zum einen ist der Kriegszustand noch nicht beendet, im Norden und im Nordwesten gibt es noch Kämpfe. Zum anderen haben wir aufgrund der Sanktionen seit zehn Jahren eine Mangelwirtschaft. Die Preise sind sehr hoch und ziehen weiter an. Das gilt vor allem für Energie. Wenn der Dieselpreis wieder mal steigt, steigen sofort die Lebensmittelpreise. Ein Wirtschaftsaufschwung bräuchte eine Art internationalen Marshallplan mit viel Kapital, das investiert werden kann. Das ist überhaupt nicht abzusehen.

Wie geht es den Menschen vor Ort in ihrem täglichen Leben?

90 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, sie kämpfen täglich darum, für sich und ihre Familien irgendwie Lebensmittel und das Nötigste zu organisieren. Die Organisationen, die hier sind, leisten eine extrem wichtige Arbeit. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst JRS zum Beispiel bietet Bildungsprogramme, psychosoziale Hilfeleistungen und medizinische Grundversorgung an. Zielgruppen sind dabei vor allem Menschen am Rand der Gesellschaft wie geflüchtete Familien oder Straßenkinder. Damit wollen wir gerade der ärmsten Bevölkerung nachhaltig helfen. Aber es braucht mehr solcher Angebote. Und mehr Spenden. Der größte Kampf allerdings ist der gegen die Hoffnungslosigkeit, auch wenn gerade viele ein wenig aufatmen nach einem kalten Winter: Der Frühling wärmt ein bisschen auch die Seelen.

Hier können Sie für die Menschen in Syrien spenden.

Interview: Gerd Henghuber

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