P. Ansgar Wiedenhaus SJ: "Es ist nicht mein Job, die Leute in der Kirche zu halten."

522.821 Menschen sind 2022 aus der katholischen Kirche ausgetreten, so viele wie noch nie in einem Jahr. P. Ansgar Wiedenhaus SJ leitet die Offene Kirche St. Klara in Nürnberg. Seit 2022 bietet er mit Exit ein Gesprächsformat explizit für jene an, die der Kirche den Rücken kehren wollen oder schon ausgetreten sind. Sie zum Bleiben in der Kirche zu bewegen, ist explizit nicht der Zweck. Im Interview mit katholisch.de hat er über seine Erfahrungen gesprochen.

Pater Wiedenhaus, es gibt viele Studien über Gründe von Kirchenaustritten. Welche Gründe nennen Ihnen die Menschen, die zu Ihnen kommen?

Das Missbrauchsthema liegt natürlich obenauf. Ebenso die Art, wie damit umgegangen wird – oder eben nicht. Dann sagen Leute, sie fühlen sich in ihrer Lebenssituation nicht respektiert. Sie leben in einer Partnerschaft, die die Kirche offiziell nicht anerkennt und fragen sich, ob sie zu Leuten gehören sollen, die einen so wichtigen Teil ihres Lebens ins Nichts schieben. Daneben gibt es natürlich solche, die sich generell nur schwer mit der Kirche identifizieren können. Grundsätzlich sind es aber Leute, die unter der Unwilligkeit zu Änderung, diesem Machtgehabe in der Kirche leiden. Man hat ja den Eindruck, dass man in der Kirche gar nicht rational diskutieren kann, sondern alles über die Machtschiene entschieden wird.

Das sind Gründe, die auch in der öffentlichen Debatte über Kirchenaustritte immer wieder genannt werden. Gibt es darüber hinaus noch andere, die sich in Ihren Gesprächen zeigen?

Oft sind es auch ganz persönliche Erfahrungen. Ich höre ja auch, was diejenigen, die nicht austreten wollen, vor Ort mit der Kirche erleben: Der Vater soll beerdigt werden – und es wird erstmal darüber geredet, dass er nie in der Kirche war. Da fragen sich die Leute: Wie geht ihr eigentlich mit mir um?

Hat das Ganze aus ihrer Sicht inzwischen eine neue Qualität erreicht?

Auf jeden Fall. Früher hat man da immer dieses unglaublich hässliche, respektlose Wort vom "welken Laub" benutzt, das von den Bäumen fällt, was nie so gestimmt hat. Aber jetzt sagen selbst kirchliche Mitarbeitende, dass sie nicht wissen, ob sie es noch mit ihrem Gewissen vereinbaren können, in dieser Kirche zu wirken. Da geht es gar nicht mehr um die Frage "Gehen oder Bleiben", sondern ob es moralisch überhaupt vertretbar ist, zu bleiben. Und das ist tatsächlich eine neue Qualität.

Was macht es mit Ihnen persönlich, wenn Sie die Verletzungsgeschichten der Menschen hören?

Natürlich spüre ich da Wut. Aber auch Hilflosigkeit. Denn all das, was ich skizziert habe, zeugt von einer Unangefochtenheit. Leute, die sich so etwas erlauben, sind es gewohnt, dass sie damit durchkommen. Auf dem Dorf gibt es nur einen Pfarrer, und die Leute sind dem ausgeliefert, wenn sie in die Kirche wollen. In der Stadt kann man immer noch sagen, man geht dahin, wo es einem guttut. Oder schauen wir auf die höhere Ebene: Der Missbrauchsbericht aus dem Erzbistum Freiburg liefert das beste Beispiel. Die Verantwortlichen dürften alle miteinander gesprochen und sich überlegt haben, wie sie Informationen verschwinden lassen. Die waren sich offenbar sicher, dass sie damit durchkommen. Und das sind sie auch jahrelang. Das ist eigentlich unbegreiflich.

Wie viele "Exit"-Gespräche haben Sie geführt, seit es dieses Angebot gibt?

Wenige. Vielleicht zehn.

Was sagt das aus Ihrer Sicht aus?

Es gab vergangenes Jahr, als wir damit angefangen haben, ein recht großes PresseechoDass trotzdem nur ganz wenige gekommen sind, liegt vielleicht daran, dass es zu spät war. Ich hatte die Idee schon sehr viel länger. Einmal habe ich jemanden wieder in die Kirche hinein begleitet. Der überlegte sich damals, ob es für ihn an der Zeit ist, wieder in die Kirche einzutreten. Und er sagte, so ein Gespräch hätte er brauchen können, als er ausgetreten ist. Er wäre wahrscheinlich trotzdem ausgetreten, er hätte aber den Eindruck gehabt, dass es eine informiertere Entscheidung gewesen wäre. Schon damals habe ich mir gedacht: Dabei müssen wir helfen. Der Grund, warum ich nicht schon früher angefangen hatte, war die Sorge, dass ich nicht deutlich machen kann, dass es mir nicht darum geht, Leute zu halten. Ein Grund könnte einfach auch sein, dass die Leute, die austreten wollen, lieber andere Ansprechpartner haben, mit denen sie über ihre Gründe reden.

Wie sehen Sie denn in den Gesprächen ihre Rolle: als Blitzableiter oder als "Mülleimer" für angestauten Frust, den man loswerden will?

Das hängt von den Leuten ab. Es gibt solche, die brauchen keinen Rat von mir, die wollen einfach über die Probleme, die sie mit der Kirche haben, reden. Manche wollen nur, dass man ihnen zuhört. Andere sagen, sie wollen auf jeden Fall austreten, aber mit jemandem darüber reden, wie es mit ihnen weitergeht. Sie wollen ja weiterhin ihren Glauben leben. Und manche sind auf der Kippe und brauchen einfach ein Vokabular, wie sie an diese Frage herangehen. Mein Job dabei ist, mitzuhelfen, dass die Leute eine gute und durchdachte Entscheidung treffen.

Was sind denn Ihre Mittel, um den Menschen zu einer guten Entscheidung zu verhelfen?

Wir unterhalten uns über Motivation, wir unterhalten uns darüber, wo die Leute ihr Zuhause vermuten. Manchmal ist es so, dass Leute sagen, sie fühlen sich hier nicht wohl, aber es ist trotzdem ihr Zuhause. Dann muss man eben zusammen herausfinden, was da stärker wiegt, oder inwiefern das Zuhause für den Einzelnen einfach unlebbar geworden ist.

Und was sagen Sie denen, die trotz Kirchenaustritt ihren Glauben weiterleben möchten?

Wir versuchen gemeinsam etwas zu finden, wo diese Menschen einen Ort für ihre Glaubens- und Lebensfragen finden. Für manche ist das soziales Engagement, für andere das Taizé-Gebet in irgendeiner Gemeinde, für wieder andere Vorträge oder auch mal das Besuchen und Entdecken anderer Konfessionen oder Religionen.

Gerade in jüngster Zeit verstärken sich die Debatten, wie und ob man Ausgetretene kirchlicherseits generell seelsorglich begleiten kann. Nach all dem, was Sie mir gesagt haben: Gibt es auf der Seite der Austrittswilligen oder Ausgetretenen überhaupt den Wunsch dazu – außer den Bedarf, sich Ihren Frust von der Seele zu reden oder nach Perspektiven für den eigenen Glauben zu suchen?

Ich glaube, dass die Leute ganz unterschiedlich darauf reagieren würden. Es gibt welche, die sagen, das erste Mal, dass sich die Kirche bei ihnen gemeldet hat, war nach ihrem Austritt. Wenn etwa Gemeinden noch ein Gespräch anbieten, werden die Menschen in der Regel sagen, dass ihnen das ein bisschen zu spät kommt. Manche sagen das vielleicht nicht, dann hat man die Chance auf ein gutes Gespräch. Die Kirche sollte nur signalisieren, dass es ihr nicht gleichgültig ist, wenn Menschen gehen.

Sie sagen zwar, dass das überhaupt nicht Ihr Ansatz ist. Dennoch: Wie groß ist bei Ihnen als Priester und Seelsorger die Versuchung, Ihre Gesprächspartner zum Bleiben in der Kirche zu bewegen?

Die liegt bei null. Das kann ich auch guten Gewissens so sagen. Es ist nicht mein Job, Leute zu halten. Und ich fände es auch unanständig. Meine Aufgabe ist nicht, Rekrutierung für die Kirche zu betreiben. Meine Aufgabe besteht darin, Menschen zu helfen, dass sie die Fähigkeit haben, ihren Weg zu gehen.

Welche Erkenntnisse haben Sie aus diesen Gesprächen bisher gezogen – für Ihre Arbeit, aber auch im Blick auf die Kirche?

Das Bild, das ich immer wieder benutze, ist das vom Babylonischen Exil. Damals wie heute, durch das eklatante Versagen der religiösen – und zu jener Zeit auch politischen – Führungsschicht, rennen die einen durch Trümmer, die anderen verlieren ihr Zuhause. Und ich sehe meine Arbeit gerade darin, für die da zu sein, die durch Trümmer rennen und Kontakt zu denen zu halten, die ihre Heimat verloren haben. Wenn jemand sagt, damit will er gar nichts mehr zu tun haben, dann habe ich das zu respektieren. In dieser Exilzeit hörte Israel jedoch nicht auf, Volk Gottes zu sein. Aber es ist alles erst mal kaputt. Und momentan sieht es ja nicht gerade so aus, als ob sich die Kirche reformiert und eine große Zukunft hat. Vielleicht müssen wir wirklich erst komplett scheitern.

Kommen – vielleicht nochmal verstärkt durch die Gespräche – auch Ihnen Zweifel an Ihrer eigenen Berufung oder gar an Ihrer eigenen Kirchenmitgliedschaft?

Ja. Dann fängt natürlich auch bei mir das Abwägen an: Unterstütze ich ein System, das im Grunde genommen nicht unterstützenswert ist? Oder ist das für mich immer noch der Boden, auf dem ich tatsächlich für Menschen da sein kann?

Wie beantworten Sie diese Frage aktuell für sich?

Ich bin noch da (lacht). Ich habe das große Glück, dass ich an einem Ort bin, wo ich wirklich den Eindruck habe, ich komme mit Menschen in Kontakt, ich kann sie begleiten. Ich betrachte das schon als Privileg. Das macht es einem natürlich auch leichter, innerhalb dieser doch insgesamt eher schlechten Situation der Kirche in dem, was man tut, einen Sinn zu sehen.

Interview: Matthias Altmann, katholisch.de
mit freundlicher Genehmigung

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