„Nur eine gewaltfreie Kirche hat eine Daseinsberechtigung“

Ein Forscherteam der Universität Zürich hat die Ergebnisse ihrer einjährigen Studie zu Fällen sexuellen Missbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche in der Schweiz vorgestellt. Die Wissenschaftler kommen nach Recherchen in den Archiven und Gesprächen mit Betroffenen, Experten und Vertretern der Kirche auf 1.002 Missbrauchsfälle seit 1950. Ein Schwerpunkt der Fälle liege in den 50er und 60er Jahren. Im Verlauf des untersuchten Zeitraums nehme die Zahl tendenziell ab. Die Betroffenen seien zu drei Vierteln minderjährig und mit 56 Prozent mehrheitlich männlich. Die 510 Täter seien fast ausschließlich Männer.

Die Verantwortlichen der Kirche kommen bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle nicht gut weg: Vor allem bis zur Jahrtausendwende habe trotz Kenntnis von Fällen sexuellen Missbrauchs der Schutz von Kirche, Tätern und Verantwortungsträgern überwogen. Strategie sei zumeist gewesen, die Fälle zu verschweigen und zu vertuschen oder zu bagatellisieren. Die überführten Täter seien oft innerhalb der Schweiz oder ins Ausland versetzt worden. Kirchliches Strafrecht sei in der Praxis kaum angewandt worden.

Hinschauen, hinhören und handeln

Auftraggeber der Studie sind die drei nationalen Organisationen der katholischen Kirche in der Schweiz: die Schweizer Bischofskonferenz (SBK), die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ, Dachverband der Schweizerischen Kantonalkirchen) und die Konferenz der Vereinigungen der Orden und weiterer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens (KOVOS). „Es soll alles auf den Tisch, und zwar schonungslos“, sagte Renata Asal-Steger, Präsidentin der RKZ, bei der Vorstellung der Studienergebnisse. Die Gesamtsicht und der sachlich nüchterne Blick der Wissenschaft hätten bislang gefehlt. Unabhängige Forschung und Aufarbeitung schulde die Kirche zuallererst den Betroffenen und der Gesellschaft. Der Auftrag für die Kirche sei: hinschauen, hinhören und handeln. Seitens der Auftraggeber werde dabei kein Einfluss auf Studiendesign, Forschungsteam und wissenschaftlichen Beirat genommen.

Das begonnene Forschungsprojekt soll nahtlos fortgeschrieben werden. Bereits im Juni vereinbarten die kirchlichen Organisationen mit der Universität Zürich ein dreijähriges Folgeprojekt, das Anfang 2024 beginnt. Ein Fokus wird auch auf Strukturen und systemischen Ursachen liegen, die Missbrauch im Umfeld der Kirche ermöglichen oder begünstigen.

Erste Maßnahmen: Ausbildung und Personalpolitik in der Kirche verbessern

Bischof Joseph Bonnemain, Themenverantwortlicher der Schweizer Bischofskonferenz, sieht alle heute in der Kirche Tätigen in der Verantwortung. „Wir müssen uns für einen Kulturwechsel einsetzen“. Die kommende Generation habe das Recht auf eine geläuterte Kirche. „Nur eine gewaltfreie Kirche hat eine Daseinsberechtigung“, sagte Bonnemain. Die Verantwortlichen seien gefordert, auch systemische Probleme anzugehen. Konkret nannte er Machtkonstellationen in der Kirche, den Umgang mit Sexualität sowie das Priester- und Frauenbild. Er forderte eine bessere Ausbildung und Personalpolitik in der Kirche und kündigte konkrete Maßnahmen als Konsequenz aus der Pilotstudie an. So sollen künftige Priester, ständige Diakone, Mitglieder von Ordensgemeinschaften und weitere Seelsorgende im Rahmen ihrer Ausbildung eine standardisierte psychologische Prüfung durchlaufen. Zudem werden schweizweit professionelle Angebote geschaffen, bei denen Missbräuche gemeldet werden können.

Die kirchlichen Organisationen der Schweiz teilten darüber hinaus mit, dass auch das Amtsverständnis der geweihten Amtsträger und die Aufsichts- und Führungsverantwortung in Bistümern, Ordensgemeinschaften und staatskirchenrechtlichen Behörden der Korrektur und der Weiterentwicklung bedürften.

Für die Orden und Gemeinschaften gottgeweihten Lebens sagte Abt Peter von Sury: „Wir müssen mit dieser Schuld leben. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass solches nicht mehr passiert.“ Die Orden seien in der Seelsorge aktiv und genössen ein hohes Maß an Vertrauen. Das hätten die Täter ausgenutzt. Bestimmte, fehlgeleitete Formen des Ordenslebens bildeten zugleich einen Nährboden für Grenzverletzungen und Missbrauch. Die Debatte über erforderliche Konsequenzen und Maßnahmen solle in der KOVOS weitergeführt werden. Er rief alle Orden und Gemeinschaften auf, loyal und kooperativ bei der Fortführung der Forschungsarbeiten mitzuarbeiten.

Jesuiten sagen aktive Unterstützung zu

Für die Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten, zu der die Schweiz als eine von sechs Regionen gehört, ging Provinzial P. Bernhard Bürgler SJ auf diese Aufforderung ein. „Die Studie ist ein wichtiger Schritt in der Aufarbeitung des Missbrauchs, der die katholische Kirche und Ordensgemeinschaften in der Schweiz vor die Aufgabe stellt, die richtigen Konsequenzen zu ziehen und passende, mutige Maßnahmen zu ergreifen. Wir Jesuiten werden sowohl die weitere Forschungsarbeit und Aufarbeitung als auch die erforderliche umfassende Präventionsarbeit für eine bessere Zukunft aktiv unterstützen. Wo immer es möglich und gewünscht ist, wollen wir uns auch auf den dialogischen Prozess der Versöhnung einlassen, auf Augenhöhe und als Hörende und Lernende.“
 

Mehr erfahren:
Statement der KOVOS

Medienmitteilung der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) und der Konferenz der Vereinigungen der Orden und weiterer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens (KOVOS)


Ergänzung vom 23. September:
Mittlerweile haben die Schweizer Bischöfe als Konsequenz aus der Studie folgende Maßnahmen beschlossen:

  • Die wissenschaftliche Studie zum Missbrauch in der Kirche unter der Leitung von Monika Dommann und Marietta Meier wird fortgeführt (2024-2026). Die Finanzierung ist bereits gesichert und die Verträge stehen vor der Unterzeichnung.
  • Es wird eine nationale Dienststelle zur Sammlung von Opfermeldungen eingerichtet. Für die Vorarbeit wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, bei der Umsetzung werden Betroffenenverbände einbezogen.
  • Die Mitglieder der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) haben sich mit einer Unterzeichnung dazu verpflichtet, alle Archive in ihrer Verantwortung für die Missbrauchsstudie offen zu halten.
  • Schweizweit wird ein psychologisches Abklärungsverfahren für angehende Seelsorgende und Ordensmitglieder eingeführt, professionalisiert und für obligatorisch erklärt. Die Umsetzung geschieht durch die Konferenz der Regenten der Schweizer Seminarien, gemeinsam mit Fachpersonen.
  • Die Personalakten werden professionalisiert. Mit dem Ziel, dass diese vollständig sind und auch bei Stellenwechsel nachverfolgt werden können. Dazu werden Personal- und Datenschutzexperten eingesetzt.
  • Die SBK beabsichtigt, ein kirchliches Straf- und Disziplinargericht für die römisch-katholische Kirche in der Schweiz einzurichten. Dafür sucht sie das Gespräch mit dem Vatikan. Dabei setzen sie sich auch für den Zugang der Schweizer Forschenden zu den Archiven im Vatikan ein.
Bild 1: Sebastian

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