Nachruf auf P. Wolfgang Seibel SJ

Von Andreas R. Batlogg SJ

„Stimmen der Zeit“ und Wolfgang Seibel – man nannte die Zeitschrift und den Namen in einem Atemzug, über Jahrzehnte hinweg.

Geboren wurde Wolfgang Seibel am 3. Mai 1928 in Hauenstein (Pfalz). Sein Vater Hermann war Schuhfabrikant, später Bürgermeister von Hauenstein, Landtagsabgeordneter und Mitbegründer der CDU Rheinland-Pfalz. Seine Mutter Berta (geb. Bisson) sorgte sich um den Haushalt und die sechs Kinder. Wolfgang hat vier jüngere Schwestern und einen jüngeren Bruder überlebt. Nach dem Besuch der Volksschule kam er 1938 ins Kolleg St. Blasien, nach dessen Schließung durch die Nazis 1939/41 an die Oberschule Speyer und von 1941 bis 1946 ans Humanistische Gymnasium Landau. Vom 10. Januar 1944 bis 14. März 1945 wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen. Vom 1. Mai 1946 bis zum Sommer 1947 lernte er wieder in St. Blasien, wo er das Abitur ablegte.

Weil sich das Visum für Rom dahinzog, kam Wolfgang Seibel Ende November 1946 als Priesteramtskandidat der Diözese Speyer vorübergehend an die Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. Am 11. Februar 1947 konnte er nach Rom ins Germanikum ziehen, wo er bis 1955 lebte. Ein Jahr nach ihm kam Hans Küng, mit dem er lebenslang befreundet blieb. 1950 erwarb Wolfgang Seibel an der Päpstlichen Universität Gregoriana das Lizentiat in Philosophie, 1954 in Theologie. Die Priesterweihe erfolgte am 10. Oktober 1953 durch Kardinal Clemente Micara. 1955 wurde er mit einer Arbeit über Geist und Fleisch beim heiligen Ambrosius zum Doktor der Theologie promoviert. Die Studie erschien 1958 in einem Münchener Verlag.

Bei den "Stimmen der Zeit" verbrachte er fast sein gesamtes Ordensleben

Am 14. September 1955 trat Wolfgang Seibel in Neuhausen auf den Fildern ins Noviziat der Jesuiten ein. Priester mussten damals nur ein Jahr im Noviziatshaus verbringen. Deswegen kam er von September bis Dezember 1956 nach Pullach, um seine Dissertation für den Druck vorzubereiten. In Vertretung des erkrankten P. Richard Gramlich SJ wurde Pater Seibel im Dezember 1956 nach Nürnberg in die Pfarrei St. Kunigund zur Aushilfe geschickt. Noch vor der Ablegung der Ersten Gelübde am 15. September 1957 kam er am 7. März 1957 zu den „Stimmen der Zeit“, der ältesten noch erhaltenen katholischen Kulturzeitschrift des deutschen Sprachraums. Bei dieser Zeitschrift verbrachte er praktisch sein gesamtes Ordensleben: von 1957 bis 1966 als Redakteur, dann sagenhafte 32 Jahre lang als Chefredakteur und Herausgeber. 1962 und 1963 war er jeweils von Oktober bis Dezember für die Katholische Nachrichtenagentur (KNA) in Rom und berichtete vom Konzil. 1964/65 absolvierte er das Tertiat, die letzte Ausbildungsphase als Jesuit, in Saint-Martin-d’Ablois in der Champagne bei P. René d’Quince SJ. Von September bis Dezember 1965 berichtete er wieder von der letzten Konzilssession aus Rom.

Am 21. Januar 1966 zog die Redaktion aus dem aus allen Nähten platzenden Schriftstellerhaus in der Münchener Veterinärstraße nach Nymphenburg in die Zuccalistraße um. Es war nach dem früheren Redaktionsmitglied Alfred Delp SJ benannt, der am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet worden war. Am 2. Februar 1966 legte Pater Seibel früh morgens seine Letzten Gelübde ab, zwei Stunden später weihte Kardinal Julius Döpfner den neuen Redaktionssitz ein, wo auch „Geist und Leben“ (GuL) untergebracht war. Vom 22. März 1966 bis 30. Juni 1998 war Pater Seibel dann Chefredakteur der „Stimmen der Zeit“. Die Zeitschrift wurde zu einer Plattform für den „kritischen Dialog“ (Karl Rahner SJ) nach dem Konzil. P. Roman Bleistein († August 2000) war ein enger Mitarbeiter, Karl Rahner wohnte (wie sein kranker Bruder Hugo) einige Jahre in derselben Kommunität. Seibels Editorials (ein Genus, das er einführte) wurden gelesen und beachtet. Manche kirchlichen Hierarchen zitterten, wenn ein neues Heft erschien.

Er war fair und umsichtig, wurde oft als distanziert wahrgenommen

Von 1967 bis 1973 war Pater Seibel auch Studienpräfekt der Oberdeutschen Provinz. Im September 1977 wurde er zum Vizesuperior des Alfred-Delp-Hauses ernannt, von Mai 1978 bis April 1985 sowie von März 1991 bis April 1997 war er Superior. Er war fair und umsichtig, wurde ordensintern aber oft als distanziert wahrgenommen. Im Grunde genommen war er ein sehr scheuer Mensch. Pater Seibel konnte aber auch aufleben, humorvoll sein, liebenswürdig, besonders in vertrautem Kreis oder unter seinen Journalistenschülerinnen und -schülern.

1968 wurde Wolfgang Seibel von der Deutschen Bischofskonferenz mit der Gründung des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses e. V. (ifp) in München beauftragt, dessen erster Leiter er bis 1991 blieb. Mehrere Generationen von Journalisten schätzten, ja bewunderten ihn, darunter Bettina Schausten (ZDF), Joachim Frank (DuMont), Wolfgang Küpper (BR), Raoul Löbbert (DIE ZEIT) oder Heribert Prantl (SZ), um nur fünf von vielen prominenten Namen herauszugreifen. So sachlich-korrekt, manchmal auch abweisend Pater Seibel innerhalb des Ordens erlebt und empfunden wurde: Für Hunderte von Absolventen des ifp war er ein „Hero“. Oft baten ihn Ehemalige, bei Hochzeiten und Taufen priesterlich zu wirken. Den sperrigen, aus der Not geborenen Institutstitel von 1968 hat die Einrichtung immer beibehalten. Die Absolventen des ifp sollten „gute, wenn möglich herausragende Journalisten werden, und wenn sie dann auch noch überzeugte Christen sind, hat das Institut seine Ziele voll erreicht“. Diese Maxime von Pater Seibel unterstützt der Förderverein des ifp (Fifp) mit dem 2004 ins Leben gerufenen „Pater-Wolfgang-Seibel-Preis“. Die seit 2004 ausgelobte (zunächst jährlich, seit 2006 alle zwei Jahre zu vergebende) Auszeichnung für herausragende Arbeiten von Stipendiatinnen und Stipendiaten sowie Volontärinnen und Volontären ist mit 3.000 Euro dotiert. 2018 beging das Institut sein 50. Gründungsjahr. In einem Festakt an der Hochschule für Philosophie gab es eine Podiumsdiskussion mit Kardinal Reinhard Marx und Thomas Gottschalk, der 1974 beim ifp angeheuert hatte. Gottschalk sprach vor der Debatte, lässig auf den Stufen des Podiums sitzend, für etwas mehr als fünf Minuten mit seinem Lehrer Wolfgang Seibel – der lebhaft, teils witzig antwortete und damit die Festgemeinde an diesem „Görresabend“ faszinierte.

Die Schließung des Alfred-Delp-Hauses schmerzte ihn sehr

Der 70. Geburtstag (1998) war für Pater Seibel der richtige Zeitpunkt, um die Leitung der Zeitschrift in jüngere Hände zu übergeben. P. Martin Maier SJ war bereits 1996 in die Redaktion eingetreten – und wurde sein Wunschnachfolger. Jahrelang noch stand Wolfgang Seibel zur Verfügung, wenn er gefragt wurde, mischte sich aber nie von sich aus ein. Seine Expertise war geschätzt, sein großes Netzwerk erwies sich als nützlich. Die Entscheidung, das Alfred-Delp-Haus zu schließen, schmerzte ihn sehr, besonders die Auflösung der Bibliothek. Er konnte nicht anders, als sich an Pater General in Rom zu wenden. Am 24. September 2003 zog er ins Berchmanskolleg in der Kaulbachstraße um. Dort nahm er weiter aufmerksam am kirchlichen und gesellschaftlichen Leben teil, las, recherchierte, hielt Vorträge, bis eine Makula-Degeneration 2009 seinen Aktionsradius zunehmend einschränkte und das Lesen Schritt für Schritt verunmöglichte. Er behalf sich mit seinem geradezu militärisch eingeteilten Tagesablauf.

Dass ein Jesuit nach dem Noviziat praktisch das gesamte Ordensleben in einem Werk und in einer Kommunität verbringt, ist ungewöhnlich. So ungewöhnlich wie – ähnlich wie bei P. Friedrich Wulf von GuL – der „Langzeitchefredakteur“, dessen Ablösung manche „römischen Stellen“ sehnlichst herbeisehnten. Pater Seibel konnte sich bei Schwierigkeiten auf etliche Germaniker-Kommilitonen verlassen, die Bischöfe geworden waren. Auf einen besonders: Kardinal Wetter. Die Gymnasialjahre in Landau und die Germanikerzeit in Rom verbanden die beiden. Sie wurden auch zusammen geweiht. Als Wolfgang Seibel 1941 nach Landau kam, konnte er noch nicht schwimmen. Sein Klassenkamerad und Freund Friedrich Wetter brachte es ihm bei. „Damals habe ich gelernt, mich über Wasser zu halten“, sagte Pater Seibel einmal in einem Interview.

Das Zweite Vatikanische Konzil und die Würzburger Synode prägten ihn

Das Zweite Vatikanische Konzil und die Würzburger Synode, für welche Wolfgang von Anfang bis Ende (1971 bis 1975) Tageskommentare für den BR schrieb, prägten ihn. Er verteidigte diese kirchengeschichtlichen „Sternstunden“ zeitlebens und konnte heftig werden, wenn er deren Errungenschaften in Gefahr sah. Unter Tendenzen eines Rückbaus des Konzils unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. litt er. Als ich mit Pater Seibel Anfang November 2010 ein ausführliches, mehrstündiges Gespräch über die Würzburger Synode führte, das im Januar 2011 erschien (Wolfgang Seibel, Die Deutsche Synode – vergangen und vergessen? Im Gespräch mit Andreas R. Batlogg SJ, in: Stimmen der Zeit 229, 2011, S. 13-29), ging er mit mir Satz für Satz der Tonbandaufnahmen akribisch durch, mehrmals, weil er damals in seiner Sehkraft schon stark eingeschränkt war. Wolfgang Seibel war ein journalistischer Vollprofi.

Für einige Jahre organisierte ich zwei Mal pro Jahr die Treffen zwischen drei Germanikern: Friedrich Wetter, Gerhard Gruber und Wolfgang Seibel, der mich als Begleiter oder, wie er manchmal scherzhaft sagte, als „Blindenhund“ mitnahm. Der Kardinal erfand für diese Begegnungen bald die Bezeichnung „Viererbande“ – meistens im „Spatenbräu“, manchmal anderswo (und er bezahlte immer die gesamte Rechnung!). Ich kam mir anfangs unter diesen „Großvätern“ komisch vor. Es wurde gegessen und getrunken, die Themen gingen nie aus, so manche Klage über kirchliche Vorgänge oder Personalien auch nicht.

Er blieb interessiert, hörte Unmengen von Hörbüchern und CDs

Sein 60. Priesterjubiläum (2013) feierte Wolfgang Seibel zusammen mit seinen Jahrgangskollegen Friedrich Wetter, Gerhard Gruber und Anton Rauscher SJ im Münchner Liebfrauendom. Kardinal Wetter bestand darauf, dass auch Seibel konzelebrierte, deswegen begleitete ich ihn, damit er sich in der Liturgie zurechtfand. Die Kardinäle Reinhard Marx und Karl Lehmann würdigten ihn mit Glückwunschbriefen. Auch das 70. Priesterjubiläum feierten die drei im August 2023 gemeinsam im Alten- und Pflegeheim Berg am Laim, wo Wetter und Gruber wohnten – sitzend, und Kardinal Wetter hatte den Vorsitz. In den letzten Jahren wurde es stiller um Pater Seibel. Er bekam aber noch viele Anrufe und nutzte seinerseits das Telefon. Er blieb interessiert, hörte Unmengen von Hörbüchern und CDs.

Im Frühjahr 2022 zogen die Mitbrüder des Berchmanskollegs in die neugeschaffene Altenkommunität Rupert Mayer in der Blumenstraße um, unter ihnen Wolfgang Seibel. Seit Februar 2024 häuften sich gesundheitliche Probleme, die Anfang März 2024 den Umzug ins Alten- und Pflegeheim der Barmherzigen Schwestern in Berg am Laim erzwangen. Die drei Germaniker waren also wieder an einem Ort! Die Umstellung fiel Pater Seibel schwer, er musste Mitte März ins Isar-Amper-Klinikum verlegt werden, wo er am 17. März verstarb.

Einer guten Flasche Wein und gutem Essen war Wolfgang Seibel nie abgeneigt. Überhaupt war er in vielerlei Hinsicht ein Connaisseur. Jetzt ist er am 17. März 2024 friedlich eingeschlafen und darf – so christliche Hoffnung – am himmlischen Gastmahl teilnehmen. Vielleicht in der Feinkost-Abteilung? Viele werden ihn in der Ewigkeit erwarten. Viele werden ihn hier vermissen. Wolfgang Seibels Stimme hatte Gewicht. Er wird nicht nur als „Journalistenlehrer und Konzilsreporter“ in Erinnerung bleiben.

R.I.P.

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