Den Glauben erzählen

Im traditionellen Kirchenbild gab es Hirten und Herde. Dieses Modell stirbt angesichts immer weniger Priester und geringerer Mittel. Wie kann der Glaube dann gelebt und weitergegeben werden, fragt Stefan Kiechle SJ.

In einem traditionellen Kirchenbild gab es Hirten und Herde, den lehrenden/leitenden Teil und den hörenden/geführten Teil der Kirche. Die Hirten waren die Kleriker. Seit sich ab dem 19. Jahrhundert durch die Priesterseminare eine meist recht gute Ausbildung durchsetzte, waren die Priester ordentlich gebildet: menschlich und geistlich, intellektuell und pastoral. Später übernahmen auch Religionslehrerinnen und Diakone, Ordensfrauen, Pastoralreferenten und Gemeindereferentinnen Hirtendienste, alle ebenfalls mit guter Ausbildung, daher mit einer gewissen Professionalität und mit beamtenartiger Anstellung bei der Kirche oder – im Fall der Schule – beim Staat.

Dieses Modell stirbt: Die Hirten und Hirtinnen gehen großenteils auf die Rente zu, kaum jemand kommt nach. Nicht nur bei Ordensleuten und Priestern, auch bei pastoralen Laienberufen gibt es kaum Nachwuchs. Seit Jahrzehnten versucht man zum einen, mit aufwändiger Berufungspastoral Nachwuchs zu werben – so gesehen, ist der Versuch gescheitert. Zum anderen will man mit pastoraler „Umstrukturierung“ des Mangels Herr werden – um zu vertuschen, dass in der Breite die einfachen Herden eben keine Hirtinnen und Hirten mehr bekommen. Nun werden ja auch die Herden rapide kleiner und das Geld für die Anstellung der Hirtinnen weniger. Mancher meint, das Problem regle sich dadurch von selbst. Aber vor allem auf dem Land bluten die Gemeinden aus, nicht nur in der Mitgliederzahl, auch im Geist und im Leben. Ist das traditionelle Kirchenbild am Ende? Taugt das Modell Hirtinnen – Herde nicht mehr? Wie kann der Glaube gelebt und weitergegeben werden, wenn es Lehrende und Leitende nicht mehr gibt?

Die Christgläubigen werden einander den Glauben erzählen

Die Kirche wird ohne die herkömmlichen Hirten und Hirtinnen weitergehen müssen – ein schmerzhafter Verlust. Auch der bürokratische Überbau wird reduziert werden – der kleinere Verlust. Die Christgläubigen – ja, das Volk Gottes – werden einander den Glauben erzählen: In kleinen, persönlichen Gruppen werden sie Glaubenserfahrungen und Glaubenswissen weitergeben, mehr zeugnishaft und persönlich, respektvoll, liebend. Eltern erzählen ihren Kindern. Erwachsene, die sich im Glauben bilden, erzählen anderen Erwachsenen und Kindern. Das Erzählen wird zur Katechese. Christen werden narrativ in den Glauben einführen – die Bibel hat ja große narrative Kraft. Es wird weniger gelehrt, mehr ausgetauscht. Alles geschieht mit Gebet und im Gebet als der ersten und einfachsten Glaubenserfahrung, die man teilt und gemeinsam einübt. Im deutschsprachigen Raum werden wir von Christen anderer Länder lernen, die oft viel unbefangener, persönlicher, freier beten und damit mehr auf Gott vertrauen als auf ihr Denken und Machen; und die auch unbefangener über ihren Glauben sprechen und ihn bezeugen.

Modell könnten Glaubensgruppen sein, die schon leben: beispielsweise GCL (Gemeinschaften christlichen Lebens), END (Équipe Notre Dame), Exerzitien-im-Alltag-Gruppen, Familien-, Bibel- und Gebetskreise. Das kirchliche Leben wird wohl entprofessionalisiert, also charismatischer? Die wenigen theologisch ausgebildeten Christen – mehr Ehren- als Hauptamtliche – formen andere Christen darin, solche Gruppen zu initiieren, ihnen vom Glauben zu erzählen, sie anzuleiten.

Eine Kirche, die weniger aus Sakramenten und der Liturgie lebt

Damit dürfte sich das sakramentale Leben stark verändern: Beichte und die Krankensalbung fallen bereits jetzt in breiten Kreisen weg. Ob die Eucharistie, wenn sie nicht mehr regelmäßige Praxis, sondern seltenes Event ist, dann noch verstanden und geschätzt wird? Die Taufe könnte, mit guter Vorbereitung und später intensiver Begleitung, an Bedeutung gewinnen, vielleicht auch die Firmung und die Ehe. Priesterweihen und Ordensprofessen wird es kaum noch geben: Bei YouTube kann man sie ansehen, wie alte Spielfilme. Eine Kirche, die weniger aus Sakramenten und der Liturgie lebt, dafür mehr aus freiem Gebet und Gesprächen in Gruppen, aus der Bibel und aus persönlicher Ethik: Sie wird wohl weniger institutionell und mehr geistgeleitet, weniger im traditionellen Sinn katholisch sein – also gleichsam protestantischer? Für einige ist dies eine Horrorvorstellung, für andere eine attraktive Fortentwicklung. Viele, die mit Betonung der „sakramentalen Grundstruktur der Kirche“ strikt katholisch bleiben wollen, tragen ja, gegen ihre eigene Intention, zur sakramentalen Austrocknung der Gemeinden bei, indem sie sich dagegen sperren, außer zölibatären Männern andere Menschen zu sakramentalen Weihen zuzulassen.

Miteinander im Glauben und in der Liebe wachsen

In einer erzählenden Kirche werden jene Ältere, die sich an eine regelmäßige Sakramentenpraxis mit Eucharistie und Beichte erinnern, diese schmerzlich vermissen. Zugleich werden sie mit denen, die neu und jung ihren Glauben leben, hoffentlich kraftvoll und mutig die Chance ergreifen, ihre christliche Existenz in Wort und Tat zu leben und sie, zusammen mit anderen und vermutlich in neuen Formen und Ritualen, Nichtglaubenden anzubieten. Miteinander im Glauben und in der Liebe zu wachsen, ist ein Lebensmodell, das human und erfüllend ist und zugleich Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Frieden schafft. Es ist höchst attraktiv. Kirche und Glauben haben Zukunft.

Der Beitrag von Stefan Kiechle ist im April 2024 in der Zeitschrift Geist & Leben erschienen.

Autor:

Stefan Kiechle SJ

Pater Stefan Kiechle SJ ist 1982 in den Jesuitenorden eingetreten und wurde 1989 zum Priester geweiht. Er war von 1998 bis 2007 Novizenmeister und hat in verschiedenen Aufgaben in der Hochschulseelsorge und Exerzitienbegleitung gearbeitet. Von 2010 bis 2017 war er Provinzial der Deutschen Provinz der Jesuiten. Er ist Delegat für Ignatianische Spiritualität und Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Stimmen der Zeit".

Bild 1: stock.adobe.com/Farknot Architect

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