Wo öffnet sich für uns Gekränkten der Himmel?

In diesem Jahr wurden viele unserer Pläne durchkreuzt. Und doch stehen wir an seinem Ende wieder an der Krippe. Wo öffnet sich für uns gekränkten, ernüchterten Menschen des 21. Jahrhunderts der Himmel? 

 «Ganz Judäa und alle Einwohner Jerusalems zogen zu Johannes dem Täufer hinaus», heisst es in einer biblischen Erzählung, die der Geburt Jesu vorausgeht. Sie lenkt den Blick auf das Umfeld, in dem die Menschwerdung Jesu stattfinden wird. 

Die Menschwerdung Jesu geschieht nicht einfach im luftleeren Raum. Im damaligen Israel gibt es eine grosse Erwartungshaltung. Die Menschen sind der römischen Fremdherrschaft müde. Und es fehlen Hoffnungsgestalten. Deswegen kann ein Johannes der Täufer soviel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und ganz Israel pilgert ins Jordantal. 

Und so legt sich die Frage nahe: Welche Erwartungshaltungen prägen denn uns? Uns Menschen des 21. Jahrhunderts?

In der Philosophie spricht man von den drei grossen Kränkungen der Moderne, die uns im 21. Jahrhundert immer noch zu schaffen machen: Kopernikus hat das mittelalterliche Weltbild zerstört – die Welt ist nicht mehr Mittelpunkt des Kosmos, sondern wir befinden uns irgendwo auf einer Aussenbahn des Sonnensystems. Darwin hat uns klar gemacht, dass der Mensch nicht unbedingt die Krone der Schöpfung ist, sondern wir in einem Evolutionsprozess entstanden sind. Und Freud mit seiner Psychoanalyse lässt uns wissen, dass das souveräne Ich, mit der wir die Welt erobert haben, nicht unbedingt Herr oder Frau im eigenen Haus ist, sondern das Unbewusste vielleicht mehr unser Leben beeinflusst, als uns lieb ist. 

Rückblickend auf die vergangenen Jahre könnten wir zwei weitere Kränkungen hinzufügen: Die Botschaft vom Klimawandel hat hinter einem ungebremsten Fortschrittsdenken endgültig ein Fragezeichen gesetzt; der ganze Fortschritt der vergangenen 200 Jahre – bezahlen wir und insbesondere bezahlt die nachfolgende Generation jetzt die Rechnung? Und natürlich die Pandemie: Die Erfahrung, dass wir auch im 21. Jahrhundert trotz allem medizinischen Fortschritt nicht unangreifbar sind, zeigt uns, wie verletzlich und schutzlos wir sind.

Diese kränkenden oder ernüchternden Erfahrungen könnte man so zusammenfassen: Wir Menschen sind auf dieser Welt nicht so souverän. Und vor allem haben wir längst nicht alles im Griff. 

Welche Orientierungen bieten sich in dieser Zeit von grossen Verunsicherungen an? In der Philosophie des 19./ 20. Jahrhunderts gibt es zwei klassische Antworten. Die französischen Existenzialisten wie Albert Camus sagen uns: Na ja, Ihr müsst diese Spannung eben aushalten. Das Dasein, das Leben ist absurd – l’absurde ist ein zentraler Begriff im Werk von Camus. Wir müssen unserem Leben selbst einen Sinn geben. Und dies können wir, indem wir uns für ein ethisches Handeln bewusst entscheiden. Dr. Rieux, die Hauptfigur des Romans «Die Pest» von Albert Camus, opfert sich bewundernswert für seine Patienten auf. Auch wenn er weiss, dass sein Einsatz am Ende vergeblich sein wird. Diese Haltung nennt Camus den Heroismus des aufrechten Ganges. 

Die grosse Alternative bietet Friedrich Nietzsche. Er erklärt Gott für tot, ein Befreiungsschlag für Nietzsche. Indem er sich von jeder moralischen Instanz verabschiedet, fühlt er sich nicht mehr gebunden. Nicht gebunden an irgendeine moralische Autorität, die einmal von ihm Rechenschaft verlangen könnte. Auch fühlt er sich nicht verpflichtet zu einer Solidarität mit seinen Mitmenschen. Denn Rücksicht zu nehmen auf die im Leben zu kurz Gekommenen erscheint ihm die grosse Schwäche des Christentums. Indem Nietzsche nicht mehr an moralische Instanzen gebunden ist, ist der Mensch nun endlich frei. Frei für das Ideal einer rauschhaft dionysischen Lebenssteigerung. 

Und was hat die christliche Botschaft uns gekränkten, ernüchterten Menschen zu bieten? Ist es einfach nur berechnende Moral, wie Nietzsche uns höhnisch weiss machen will? Das christliche Angebot einer Lebensorientierung steht der Konzeption einer Lebenssteigerung näher, als wir vermuten.  

Nicht der dionysische, also der selbstverliebte Lebenstrieb wird verstärkt. Vielmehr setzt die christliche Botschaft auf die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu übersteigen auf den Anderen hin. Der Andere: Das können die anderen Mitmenschen sein oder das kann das Geheimnis unseres Lebens sein, das wir Gott nennen. Selbstübersteigen jedoch nicht als moralisches Gebot, sondern als Möglichkeit, unser Menschsein voll zu entfalten. Wir können für uns bleiben in der Welt unseres Egos. Dann bleiben wir letztlich in einer kleinen Welt gefangen. Öffnen wir uns hingegen auf die Anderen hin und richten wir uns auf Gott aus, kommen wir zur Fülle unseres Menschseins. 

Uns zu übersteigen und darin unsere Erfüllung zu finden, das ist auch das Mantra von Papst Franziskus in seiner jüngsten Sozialenzyklika «Fratelli tutti, über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft». Da schreibt er: «Ein Mensch kann sich nur entwickeln, sich verwirklichen und Erfüllung finden in der aufrichtigen Hingabe seiner selbst. Nur in der Begegnung mit dem Anderen vermag er seine eigene Wahrheit vollständig zu erkennen. Deshalb kann niemand ohne die Liebe zu konkreten Mitmenschen den Wert des Lebens erfahren. Hierin liegt ein Geheimnis echter menschlicher Existenz, denn das Leben existiert dort, wo es Bande gibt, Gemeinschaft, Geschwisterlichkeit; und es ist ein Leben, das stärker ist als der Tod, wenn es auf wahren Beziehungen und Banden der Treue aufgebaut ist.» (FT 87).

An Weihnachten feiern wir, dass Gott uns diesen Schritt vorausgeht. Mit der Menschwerdung Gottes übersteigt sich Gott auf uns hin. An Weihnachten feiern wir, dass Gott nicht bei sich bleibt, sondern durch die Menschwerdung uns Menschen entgegenkommt. Und so lädt uns das Weihnachtsfest ein, uns selbst auch auf den Weg zu machen. 

Wir gekränkten Menschen des 21. Jahrhunderts, die vielleicht ernüchtert auf dieses zu Ende gehende Jahr schauen: Wie könnten wir uns auf den Weg machen? 

Wir können den Weg Gottes zu uns bereiten, indem wir neu Kontakte, Beziehungen, Freundschaften pflegen, gerade zu den zu kurz Gekommenen. Nicht aus irgendeiner Pflicht geschuldet, vielmehr weil wir in der Haltung der Selbstlosigkeit und zu einem umfassenderen Menschsein heranwachsen wollen. Und es ist in dieser Verbundenheit, in diesen Gemeinschaften, dass uns Gott begegnen will. Gott begegnet uns in unserer Innerlichkeit. Was uns da hilft? Still werden und der dankbare Blick auf unser Leben. 

In diesem Jahr wurden viele unserer Pläne durchkreuzt. Und doch stehen wir an seinem Ende wieder an der Krippe. Wo öffnet sich für uns der Himmel? 

Zum Ende und vielleicht Anfang eine Passage aus einem Gedicht von Andreas Knapp vom Orden der kleinen Brüder, Leipzig: 

kreuz und krippe

aus demselben Holz geschnitzt

baumaterial dem Zimmermann

für die grosse Himmelsleiter.

Autor:

Tobias Karcher SJ

Pater Tobias Karcher ist 1961 in Weinheim bei Heidelberg geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur Studium der Philosophie und Theologie in Freiburg im Breisgau, Paris und Frankfurt/ St. Georgen. Auslandeinsatz mit dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) in Bataan/ Philippinen. 1989 Eintritt in das Noviziat der Jesuiten, anschliessend Aufbaustudium in Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule für Philosophie in München. 2003-2009 Leiter des Heinrich Pesch Hauses und stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke (AKSB) in Deutschland. Von November 2009 bis April 2023 leitete er das Lassalle-Haus, seit 2016 ist er Leiter des Lassalle-Instituts in Edlibach ob Zug.

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