Von Georg Fischer SJ
„Wie kannst du jetzt nach Israel fahren? Ist es nicht gefährlich?“ Solche und ähnliche Fragen habe ich öfter gestellt bekommen, als ich im Sommer für zwei Wochen ins Heilige Land fuhr. Die Nachrichten vom Krieg dort haben in vielen die Vorstellung erweckt, ich riskierte mit dieser Reise mein Leben.
Als ich dann in Tel Aviv ankam, war ich erstaunt. Die Einreise ging so problemlos wie noch nie, auf der Fahrt zur Unterkunft war dichter Verkehr wie immer. In den folgenden Tagen sollte sich dieser Eindruck bestätigen. Vielfach geht das Leben weiter, als wäre alles normal: Kinder spielen in schattigen Plätzen. Studenten besuchen die Uni. Am Strand versammeln sich Familien zum Baden. Draußen am Meer sind Segelboote zu sehen. An allen Ecken und Enden wird gebaut oder restauriert. Der Kontrast mit dem, was wir in den Medien hören, ist fast unwirklich.
Auf all meinen Fahrten, Wegen und Besichtigungen habe ich niemals auch nur eine bedrohliche Situation erlebt. Die Begegnungen mit den Menschen im Land waren von großem Respekt erfüllt. Ja sogar mehrfach haben mir Leute ausdrücklich gedankt, auch in dieser Situation zu ihnen gekommen zu sein.
Das Schicksal der Geiseln
Das Leiden der immer noch über hundert von der Hamas Verschleppten aber ist allgegenwärtig. Bilder von ihnen sind überall zu sehen. Manche sind Kinder unter sechs Jahren. Inschriften und Plakate mit „Bring them home now!“ finden sich an Fassaden und in Schaufenstern. Vor dem Israelmuseum in Tel Aviv haben die Angehörigen ein Zeltlager aufgebaut, wo sie seit nun über einem Dreivierteljahr die Erinnerung an ihre Lieben aufrechterhalten. Jeden Sabbat-Vorabend findet dort ein ergreifendes Gebet für sie statt und Demonstrationen für ihre Freilassung hören nicht auf.
Veränderungen im Land
Israel ist anders geworden. Die Regierung um Netanjahu mit den radikalen religiösen Parteien steht auch intern zusehends stärker in der Kritik. Ein sehr großer Teil der Bevölkerung möchte sie abwählen. Gili Kugler, eine Kollegin von der Universität in Haifa, drückt mir ihr Mitgefühl auch für die Palästinenser im Gaza-Streifen und die Notwendigkeit des Dialogs mit ihnen aus. Joshua Berman, Professor an der Bar-Ilan-Universität, benennt in einem Aufsehen erregenden Artikel auch die eigene Schuld an dem Ausbruch des Konfliktes. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass es bei vielen Israelis einen echten Willen zu Verständigung und zum Zusammenleben mit der anderen Volksgruppe gibt.
Eine neue Erfahrung
In Jerusalem habe ich die Heiligen Stätten besucht. In der Gethsemane-Kirche, Ort der Gefangennahme Jesu, war ich minutenlang der einzige Mensch. In der Kreuzkapelle, wo normalerweise Scharen zur Verehrung anstehen, konnte ich lange ungestört verweilen und mir Jesu Tod im Gebet ganz nahegehen lassen. Und sein Grab, in das ich schon viele Jahre wegen des Andrangs nicht mehr hineingekommen bin, war auch leicht zugänglich. Einige Zeit war ich darin sogar allein.
Der Grund für diese ungewohnte Erfahrung liegt im Ausbleiben der Touristen, was auch in der Altstadt von Jerusalem deutlich zu spüren ist. Nur etwa die Hälfte der Geschäfte hat offen, man kann ohne Gedränge durch die engen Gassen gehen. Seit über vierzig Jahren fahre ich regelmäßig (inzwischen zwanzig Mal) nach Israel, aber – so paradox es klingen mag – so ideale Verhältnisse für eine Pilgerreise und den Besuch der heiligen Stätten habe ich bisher noch nie auch nur annähernd erlebt.
Die Realität des Krieges
In den Nachrichten im Fernsehen gibt es täglich ausführliche Berichte über die Konflikte im Gaza-Streifen und mit dem Libanon. Dort, an der Nordgrenze des Landes, mussten wegen des Beschusses durch die Hisbollah gut 60.000 Menschen ihre Wohnungen verlassen. Zerstörte Häuser, Bilder von gefallenen Soldaten und weinenden Familienangehörigen prägen diese Informationen und gehen nahe.
Im Inneren des Landes ist es dagegen ruhig. Von den Auseinandersetzungen ist so gut wie nichts zu spüren. Auf dem Rückflug saß eine slowenische Gebetsgruppe mit mir im Flieger nach Wien. Sie waren neunzehn Tage in Israel unterwegs gewesen und hatten unter anderem Nazareth, Jericho und Betlehem besucht. Die Reise war für sie zu einer tiefgehenden Erfahrung geworden. Wer jetzt oder in den kommenden Monaten nach Israel fährt, kann es auf eine Weise erleben, wie es vermutlich zu den eigenen Lebzeiten nie mehr der Fall sein wird. Zugleich bedeutet es eine Unterstützung für die Christen dort, deren Lage durch den Wegfall der Pilger zusehends schwieriger wird.
Ein tieferer Konflikt
Die Kämpfe in Israel sind Zeichen eines Zusammenstoßes von entgegengesetzten Kulturen und Auffassungen. Der Angriff im letzten Oktober hat offengelegt, dass das Leben von Unschuldigen nichts zählt, dass selbst Menschen in den an den Gaza-Streifen angrenzenden Kibbuzim, die das friedliche Miteinander mit den Palästinensern suchten, gnadenlos abgeschlachtet wurden. Werte wie Recht, Wahrheit, Freiheit, Respekt für Leben und persönliche Entscheidung, Demokratie, Dialog, wie sie von der Bibel her begründet sind, stehen einem brutalen Durchsetzen eigener Macht gegenüber, wobei bewusst auch schwere Folgen für die eigene Bevölkerung in Kauf genommen werden.
Meine Israelreise hat mir die Augen für diese tiefere Auseinandersetzung geöffnet. Was heute in der Welt, auch in anderen Ländern sich abspielt, ist ein Kampf zwischen grundlegend verschiedenen Haltungen. Es liegt an uns, dabei Position zu beziehen. Der Besuch dort hat mich auch erkennen lassen, wie unterschiedlich das hier bei uns von den Medien vermittelte Bild und die Realität im Land selbst sind. Und schließlich kann ich bezeugen und ermutigen, dass es gerade in dieser Situation einen großen Wert hat, nach Israel zu reisen.