• Jesuitenkirche St. Kasimir in Vilnius
  • Vidmantas Simkunas SJ, Geschäftsführer der zentraleuropäischen Region in Litauen/ Lettland
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Wenn Ihr der Welt etwas sagen wollt ...

Vidmantas Šimkūnas SJ trat während der russischen Besetzung im Untergrund in den Jesuiten-Orden ein. Die aktuelle Situation in der Ukraine lassen alte Erinnerungen aufkommen und zeigen, wie unberechenbar Russland ist. Der Geschäftsführer der litauischen Region der Jesuiten hat große Sorge aber auch das gute Gefühl, dass die Einheit Europas und die Fähigkeit, entschlossen für die Sache der menschlichen Werte zu handeln, ein Zeichen der Hoffnung und des Mutes sind. Ein Blick aus Litauen.

Wir sind bei Euch mit unseren Gebeten und Gedanken. Und wenn Ihr der Welt etwas sagen wollt, stehen wir dafür bereit. Diese Botschaft haben wir unmittelbar nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ausgesandt – immer eingedenk, dass die Betroffenen derzeit andere Sorgen haben. Dennoch haben uns Antworten erreicht.

Vilnius war und ist eine multiethnische, multikulturelle und multikonfessionelle Stadt. Unsere kleine Jesuitengemeinschaft hat ihren Sitz in der Altstadt, direkt neben dem Rathaus. Nur wenige hundert Meter vom Jesuitenhaus entfernt befinden sich mindestens drei orthodoxe Kirchen und ein orthodoxes Kloster, ein griechischkatholisches Kloster mit Kirche, eine weißrussische Gemeinde und einige lutherische Kirchen.

Im Jahr 1991 wurde der Jesuitenorden in Litauen wieder legalisiert. Seit der Zeit hat sich in der Hl. Kasimir-Kirche (die Kirche der Jesuiten) eine aktive russischsprachige katholische Gemeinde gebildet. Sie besteht aus Menschen verschiedener Nationalitäten, deren Muttersprache Russisch ist.

Das Erste, was wir empfinden, wenn wir sehen, was heute in Europa geschieht, ist, natürlich, große Sorge und das gute Gefühl, dass wir uns sicher auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhangs“ befinden. Dieser „Vorhang“ ist nicht nur als eine politische, sondern auch als eine Mentalitäts- und Identitätsgrenze zu verstehen. Auch das Menschenbild ist zu beiden Seiten dieser Grenze jeweils anders.

In den letzten 200 Jahren wurde die Mentalität des litauischen Volkes zweifellos von verschiedenen politischen Ereignissen in Europa beeinflusst. Litauen hat etwa 150 Jahre zaristischer Besatzung und 50 Jahre sowjetischer Besatzung erlebt. Beide Besatzungsideologien zielten darauf ab, Litauen vom katholischen Westen zu trennen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht! Noch etwa 80 Prozent der litauischen Bevölkerung sind, zumindest formal, katholisch.

Angesichts der gegenwärtigen russischen Aggression gegen die Ukraine sind wir Jesuiten sowie die Bevölkerung insgesamt im Allgemeinen ruhig und ohne Panik, auch wenn es große Sorge um die Zukunft gibt. Das ist verständlich. Schließlich befinden wir uns ganz in der Nähe eines unfreundlichen Staates. Nicht zu vergessen ist das extrem militarisierte Gebiet von Königsberg, an das Litauen und Polen direkt angrenzen.

Menschen meiner Generation (ich bin 57 Jahre alt) haben die Erfahrung der sowjetischen Besatzung und die Erfahrung der Freiheit gemacht. Viele von uns können noch Russisch sprechen, und viele von uns haben persönliche Erfahrungen mit dem sowjetischen, im Wesentlichen russischen, System gemacht. Alle18-Jährigen mussten in der Sowjetarmee dienen. Ich selbst diente zwei Jahre im Nordkaukasus bei der Luftwaffe. Unsere Einheit war multinational. Es waren Soldaten aus den Gebieten von der Ostsee bis zum Fernen Osten. Die Offiziere und Unteroffiziere waren überwiegend Russen. Die Beleidigung von uns Soldaten mit baltischer und westukrainischer Herkunft als „Nachkommen von Faschisten“ war keine Seltenheit.
Schon damals habe ich versucht, die Haltung der russischen Soldaten und Offiziere gegenüber dem Westen zu verstehen. Einerseits blickten sie auf den Westen, als wären sie neidisch auf seinen höheren Lebensstandard, seine besseren Waren usw. Andererseits betrachteten sie, ideologisch indoktriniert, den Westen als aggressiven Feind, der nur darauf warte, die Sowjetunion anzugreifen. Man hatte den Eindruck, dass die sowjetische Armee immer noch die alten imperialen russischen Ambitionen verfolgte. Das Streben nach Macht ist primitiv, dennoch für viele nachvollziehbar, auch wenn es auf einem kriminellen Prinzip beruht: „Wir sind stark, wir sind gefürchtet – also respektiert uns.“

Wir glauben, dass unsere Erfahrungen mit unseren östlichen Nachbarn für das Westeuropa, das diese Erfahrung nicht gemacht hat, nützlich sein können. Bisher hatte man den Eindruck, dass der Westen uns nicht ausreichend zuhört, weil er denkt, dass wir übertreiben, zu negativ sind, dass unsere Haltung nur eine Folge unserer traumatischen Erfahrungen ist. Andererseits hatten wir den Eindruck, dass der Westen zu naiv und zu leichtgläubig war und die Zeichen der Realität nicht sah oder nicht sehen wollte.

Die Ereignisse der letzten Wochen haben gezeigt, wie unberechenbar Russland ist. Heute steht es fest, dass auch diese diktatorische Macht ihre imperialen Expansionsbestrebungen nicht aufgegeben hat.

Wir sind auf der Suche nach Zeichen der Hoffnung und freuen uns, dass sie sich mehren. Eines dieser Zeichen ist das Erwachen Westeuropas, das zur Einsicht gekommen scheint, dass Russland unter Putins Regime kein normaler Staat ist. Der Führer dieses Regimes hat sich in eine Ecke manövriert, aus der er keinen Ausweg mehr sieht.

Eine andere Hoffnung, die wir hegen, ist der Mentalitätswandel in Russland selbst.

Wir sind entschlossen, alles zu tun, was in unserer Macht steht, um der Ukraine zu helfen, die 70 Jahre lang hinter dem „Eisernen Vorhang“ lebte und in den letzten Jahren versucht hat, sich zu befreien. Wir empfinden Mitgefühl mit den Ukrainern, die sich nach Freiheit sehnen und die Souveränität ihres Landes verteidigen. Wir haben bereits mehreren Familien aus der Ukraine angeboten, sie in unserem Jesuitenhaus aufzunehmen. Und damit sind wir nicht allein.  Besonders ermutigend ist, dass die neue Generation, die in einem freien Litauen geboren wurde, auch sehr aktiv auf die Hilferufe aus der Ukraine reagiert. In den ersten Stunden der Registrierung haben mehr als 500 Menschen Wohnungen angeboten, um Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen. Als das Rote Kreuz eine Aktion zur Versorgung der Ukrainer mit lebensnotwendigen Gütern und Kleidung ankündigte, musste sie nach drei Stunden abgebrochen werden, da die Spendenmenge die Kapazität der vorhandenen Lastwagen bei weitem überstieg. Solche Zeichen der Solidarität mit den Opfern des Aggressors zeigen, dass bereits eine neue europäisch-westliche Generation herangewachsen ist. Vielleicht sind es die anonymen Christen, von denen der große Jesuit und Theologe Karl Rahner sprach. Die Einheit Europas und die Fähigkeit, entschlossen für die Sache der menschlichen Werte zu handeln, sind für uns starke Zeichen der Hoffnung und des Mutes.

Autor:

Vidmantas Šimkūnas SJ

Pater Vidmantas Šimkūnas SJ wurde 1964 im Bezirk Alytus geboren und ist mit vier Geschwistern aufgewachsen. Nach dem zweijährigen Wehrdienst in der Sowjetarmee im Nordkaukasus versuchte er dreimal, in das Priesterseminar einzutreten, was vom KGB verhindert wurde. 1986 trat er im Untergrund in den Orden ein. 1993 wurde er zum Priester geweiht. In Innsbruck machte er 1999 ein Lizenziat in Theologie und promovierte 2008 mit einer Arbeit über „Martyria, Koinonia, Diakonia und Liturgia in der Kirche Litauens während der Sowjetischen Besatzung 1944-1990“. Er unterrichtete an der Universität Vilnius die Fächer „Christentum und Kultur“ sowie „Medien und Religion“. Nach seiner Zeit als Provinzökonom, war P. Šimkūnas von 2017 bis 2021 Provinzial von Litauen und Lettland. Derzeit ist er Geschäftsführer des ECE-Regionalbüros in Vilnius, Rektor an der Johannes-Kirche Vilnius und akademischer Seelsorger an der Universität Vilnius.

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