• P. Godehard Brüntrup SJ ist Professor für Metaphysik, Philosophie der Sprache und des Geistes an der HFPH.
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Was passiert bei einer Nahtoderfahrung?

P. Godehard Brüntrup SJ hatte nach einer schweren Krankheit eine Nahtoderfahrung. Im Interview spricht er darüber, was er jenseits des Tunnels gesehen hat, vor welchem Rätsel die Hirnforschung steht und warum er sich jetzt auf den Tod freut.

WELT: Herr Professor Brüntrup, Sie waren Ende 20, als Sie nach einem Herzkreislaufversagen eine sogenannte Nahtoderfahrung hatten. Was haben Sie erlebt?

Godehard Brüntrup: Eine Nahtoderfahrung beginnt mit dem Gefühl, zu sterben, und der damit verbundenen Angst. Dann fühlt es sich an, als wäre man tot: Die Angst weicht einer großen inneren Ruhe und Gelassenheit, die alles übersteigt, was man bis dahin an geistiger Ruhe und Klarheit in seinem Leben erlebt hat, selbst in der Meditation. In dieser Klarheit setzt ein Lebensrückblick ein, in dem man sein eigenes Leben radikal hinterfragt: Wo habe ich geliebt? Wo habe ich verletzt? Dieser Rückblick ist so detailreich, auch mit Ereignissen aus der frühesten Kindheit, dass man sich gar nicht vorstellen kann, wo diese Erinnerungen überhaupt gespeichert gewesen sein sollen. Schließlich folgt ein Erlebnis des Übergangs: durch einen Tunnel in eine andere Welt, in der auch andere personale Wesen sind. Man taucht ein in eine überwältigende Liebe, ein Gefühl fast bis zur Selbstauflösung: Man ist zwar immer noch da, aber dieses Gefühl, geliebt zu sein, ist schlicht überwältigend.

Wie sahen diese anderen personalen Wesen aus?

Ich habe nicht, wie es manchen anderen geht, bestimmte Personen wiedererkannt. Ich hatte auch keine längeren Gespräche. Das ist ja eines der Phänomene bei Nahtoderfahrungen: Die Menschen begegnen dabei immer Verstorbenen, also: ausschließlich Verstorbenen. Keinen Lebenden. Der Gehirnmechanismus, der das aussortiert, ist kaum erklärbar. Manche sind sogar Verstorbenen begegnet, von denen sie im Moment ihres eigenen Nahtoderlebnisses noch gar nicht wussten, dass diese Menschen tot waren. Bei mir persönlich war es so: Nach dem Übergang in die andere Realität wusste ich, dass ich nicht allein war, was mich zunächst ein wenig verwirrte. Dann spürte ich eine gewisse positive Zuwendung von anderen. Das war aber nicht so richtig räumlich oder figürlich. Eher wie Energiefelder, die aus dieser oder jener Richtung kamen. Lichthaft, energetisch – es ist schwer zu beschreiben, ohne lächerlich zu klingen. Das war bei mir aber nur kurz: Danach kam gleich dieses allumfassende Gefühl der Liebe, das ich als mystische Erfahrung bezeichnen würde.

Sie meinen, Sie sind Gott begegnet?

Ich kann das für mich persönlich nicht anders erklären. Für mich war das eine Gotteserfahrung. Natürlich gibt es auch den Erklärungsversuch, zu sagen: So kurz vor dem Sterben spielt das Gehirn den Menschen einen Streich, es bietet ihnen eine letzte Gute-Nacht-Geschichte. Aber diese Erfahrung ist so intensiv, dass der Verweis auf Tricks des Gehirns für mich letztlich ein Glasperlenspiel ist. Dass jemand mithilfe seines Gehirns spüren kann, dass seine Ehepartnerin ihn liebt, beweist noch nicht, dass Liebe naturwissenschaftlich erklärt werden kann, dass Liebe ein Molekül wäre. Ebenso belegt der Umstand, dass ich ein Gehirn brauche, um Gott zu erkennen, nicht zwangsläufig, dass mein Gehirn Gott erschaffen hat. Letztlich kann man alle menschlichen Erfahrungen zu Gaukeleien des Gehirns erklären, auch die Alltagswelt, die uns umgibt. Aber meine Alltagswelt scheint mir weniger gewiss zu sein als das, was ich da gespürt habe.

Wie oft denken Sie daran? Täglich?

Anfangs habe ich vor allem dann daran gedacht, wenn irgendwelche Trigger da waren: wenn ein Krankenwagen vorbeifuhr, zum Beispiel. Oder der Moment des Einschlafens. Das ist ja immer so eine Art kleiner Tod. Man lässt das Bewusstsein los. In diesen Momenten habe ich mich daran erinnert, und das war für mich sofort positiv besetzt. Beim Einschlafen habe ich mir gedacht: „Ja, cool, ich werde ja eines Tages mal sterben.“ Das hat mir einfach gefallen. Heute würde ich sagen: Es war die wichtigste Erfahrung in meinem Leben. Ich teile mein Leben ein in die Phase davor und die Phase danach.

Haben Ihre Ordensbrüder Ihre Erlebnisse ernstgenommen?

Nun, ich bin Metaphysiker, die werden ja sowieso nicht sonderlich ernst genommen in einem Orden… im Ernst: Ich habe lange Zeit gar nicht über meine Erlebnisse gesprochen. Ich konnte es nicht. Es hat ungefähr fünf Jahre gedauert, bis ich aus dieser Realität überhaupt wieder in die normale Realität eingetaucht bin. Vorher war, auch wenn ich äußerlich funktioniert habe, immer das Gefühl: Ich bin im falschen Film.

Hatte die Erfahrung Auswirkungen auf ihre religiöse Berufung?

Ich war zu dem Zeitpunkt schon den Jesuiten beigetreten und wollte Priester werden. In den zwei Jahren vor der Erfahrung befand ich mich aber eher in einer schwierigen Phase. Ich schwankte. Die Nahtoderfahrung hat diesen inneren Zweifeln insofern ein Ende gesetzt, als eine berufliche Existenz, bei der es einfach nur ums Geldverdienen gehen würde, für mich nicht mehr attraktiv erschien. Das Leben mit seiner ganzen Existenz auf die Gottesfrage zu setzen, war für mich danach irgendwie klar.

Gibt es irgendetwas an dem Erlebnis, von dem Sie sagen würden: Das war etwas spezifisch Christliches?

Der Inhalt der Nahtoderfahrung ist bei vielen Menschen, dass die tiefste und bedeutendste Realität Liebe ist. Das ist natürlich unmittelbar auch die Sicht des Christentums. Das Innerste der Realität, das Realste von allem ist Liebe. Viele Nahtoderfahrene sagen auch: Es kommt darauf an, nach der Nahtoderfahrung ein Leben auf der Suche nach Weisheit zu verbringen. Also nicht der Macht, dem Geld, dem Einfluss, der Schönheit, der Gesundheit hinterherzurennen. Sondern es gibt zwei wichtige Dinge im Leben: einerseits lieben und geliebt werden, andererseits nach der Weisheit zu suchen.

Haben Sie seitdem noch mal mystische Erfahrungen gehabt?

Jetzt fragen Sie mich wie ein Psychiater… nein, so ein Erlebnis hatte ich nicht mehr. Das ist aber auch nicht mehr nötig. Die Nahtoderfahrung ist wie der Urknall. Den Urknall kann man mit einem starken Radioteleskop jederzeit hören: Der grollt weiter nach im Universum. So ist es mit der Nahtoderfahrung auch. Man muss sich nur still hinsetzen und die Augen schließen, dann wird die Erfahrung wieder lebendig.

Ist das, was Sie gesehen haben, für Sie der Beweis, dass es das Jenseits gibt?

Das ist eine spiritualistische Sichtweise, die ich für unsinnig halte. Die Nahtoderfahrung ist immer noch eine Erfahrung in dieser Welt. Die, die sie hatten, waren ja nicht tot. Sie wirft aber einige philosophische und auch einige naturwissenschaftliche Probleme auf: In einer Situation, in der das Gehirn nach Standardwissen nicht mehr zu solchen hohen Leistungen in der Lage sein sollte, bekommt der Betroffene noch ganz viel von seiner Umgebung mit. Es gibt in der Forschung einen berühmten Fall, in dem eine Person auch noch für drei Minuten nach ihrem eigenen Herzstillstand miterlebt hat, was in dem Raum geschah, aus der Vogelperspektive. Solche Dinge bringen unsere materialistische Weltauffassung schon ins Wanken. Aber ein Beweis, dass sie übernatürlichen Ursprungs sind, ist das natürlich nicht. Vielleicht muss unser Bild davon, wie unser Gehirn unser Bewusstsein erzeugt, auch einfach nur radikal reformiert werden, und am Ende haben wir eine Erklärung auch für die Nahtoderfahrungen.

Aber Sie selbst, als religiöser Mensch, wurden auch nicht in Ihrem Glauben bestärkt?

Ich habe erlebt, dass Sterben ganz anders ist, als wir uns das vorstellen. Man denkt, beim Sterben geht das innere Licht aus. Jemand dreht den Dimmer langsam runter. Im Gegenteil: Das Licht geht an, und wie! Daraus folgt für mich aber nicht zwangsläufig, dass ich zum Beispiel ewig leben werde oder so etwas. Meine Erfahrung würde es nicht ausschließen, dass es anschließend irgendwann doch noch ganz schwarz wird. Theologisch kann man dann sagen: „Diese unendliche Liebe, die du gespürt hast, wird dich nie fallen lassen.“ Mein persönliches Vertrauen, dass sie das nicht tun wird, ist natürlich gewachsen. Aber eine letzte Gewissheit habe ich nicht. Ich kann nicht sagen, ich müsste nicht mehr hoffen. Es ist eher so, dass meine Hoffnung nicht mehr ganz so radikal sein muss, weil ich schon einen kleinen Hinweis bekommen habe.

Autor:

Godehard Brüntrup SJ

Pater Godehard Brüntrup SJ ist Professor für Philosophie und kommissarischer Leiter des Instituts für naturwissenschaftliche Grenzfragen zur Philosophie und Theologie (ING) an der Hochschule für Philosophie in München.

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