„Sünde ist Verdrängen der eigenen Lebenswirklichkeit“

Sünden, Todsünden, Erbsünde, Sündenstrafen und ewige Verdammnis: Christen fürchteten sich jahrhundertelang vor den Folgen ihrer Unzulänglichkeit und suchten Rettung in Beichte, Ablass und Kasteiungen. Gleichzeitig wissen wir uns erlöst durch den Kreuzestod Christi. Aber wieso eigentlich? Und können wir uns damit bequem zurücklehnen? Eine Aufklärungsstunde über Sünde und Erlösung auch für fortgeschrittene Christen mit P. Karl Kern SJ.

Pater Kern, können Sie erklären, was Sünde ist?

Der Begriff ist schwer überlagert von früheren Vorstellungen der Menschen oder eigenen Erfahrungen, etwa in der Kindheit. Sehr schnell klar wird aber, was damit eigentlich gemeint ist, wenn man sich der Tiefendimension der Sprache bedient, denn im deutschen Wort „Sünde“ steckt das Wort „absondern“: etwas verdrängen, wegschieben von sich. Sünde ist also weniger ein objektiv schlechtes Verhalten, sondern vielmehr die Haltung des Wegschauens.

Können Sie das genauer erklären?

Die Persönlichkeit eines Menschen ist immer durchmischt von Gutem und weniger Gutem, oft wechselt sich das eine mit dem anderen ab, wir haben solche und solche Phasen. Aber wir neigen dazu, die Schatten unseres Lebens weniger wahrhaben zu wollen als das Strahlende. Oder projizieren unsere eigenen Schatten auf andere, das sind dann die Sündenböcke. Beide Verhaltensmuster dienen der Verdrängung unserer eigenen inneren Wirklichkeit, und genau das ist Sünde.

Heißt das: Nicht der Ehebruch wäre die eigentliche Sünde, sondern wenn ich mir einzureden versuchte, ich hätte aus welchem Grund auch immer einen berechtigten Grund dafür, und nicht sehen wollte, was mein Handeln mit den mindestens zwei weiteren beteiligten Personen macht?

Genau. Satan ist der Vater der Lüge, heißt es. Die Sünde wäre hier das Leugnen dessen, was wahr ist, und damit ein Mangel an Annahme von Wirklichkeit. Das ist im Grunde der ganze Glaube: Gott bejaht uns Menschen radikal mit allem, was wir sind. Daher ist es an uns, andere und uns selbst in allem zu bejahen, gerade auch die schwierigen und dunklen Seiten. Wir müssen sie nicht gut finden, aber sehen wollen und akzeptieren lernen. Sünde ist die Gegenbewegung: die Flucht vor dieser unserer Lebenswirklichkeit und damit vor deren Bejahung. Diese Flucht wiederholen wir oft so bereitwillig, dass sie zu einer Sucht werden kann, in psychischer und oft genug auch in körperlicher Form.

Was ist nach diesem Verständnis dann Erlösung? Das Gegenteil von Fliehen wäre: dableiben.

Ja, Erlösung bedeutet, dass ich zurückfinde zu meiner Ganzheit, nämlich meiner aus Gutem und Schlechtem bestehenden Identität. Dass ich sie in all ihren Widersprüchen und Brüchen in tiefer Ehrlichkeit betrachte, ausspreche, bereue und annehme. Das ist übrigens der Ablauf von Beichte, deren Funktion es ist, einen Frieden damit zu finden.

Vielen fällt diese Ehrlichkeit sich selbst gegenüber schwer.

Ist es auch. Denn die Gefühle, die uns unsere antrainierten Fluchtmechanismen verschaffen, sind vordergründig viel angenehmer als die Frage: Wovor fliehe ich da eigentlich? Wir folgen zu leichtfertig dem, was uns gute Gefühle verschafft, und bleiben hängen in unseren kleineren oder größeren Süchten. Schonungslose Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist zunächst nichts, was Spaß macht.

Dann hört sich Erlösung nach ganz schön viel psychotherapeutischer Arbeit an.

Das muss es nicht sein, denn wir sind nicht allein damit. Gott reicht uns dabei die Hand. Wenn ich mich meiner Lebenswirklichkeit wieder annähere, nähere ich mich ihm. Und vertraue darauf, dass er mich zu mir selbst führt, zu dem, was er in mir angelegt hat.

Wie meinen Sie das?

Sünde hat einen zweiten Aspekt, der sich aus dem hebräischen Wort dafür erschließt: aveira. Das kann man übersetzen mit „Zielverfehlung“. Es geht darum, dass Gott in mein Leben ein ganz bestimmtes Potenzial gelegt hat, das ich mehr und mehr zur Entfaltung bringen kann – oder eben nicht. Wenn ich partout Ziele verfolge, die meiner inneren Lebensgestalt entgegenstehen, dann ist das Sünde. Auch hier bestehen Umkehr und Erlösung darin, das sehen zu wollen und anzunehmen.

Geht das in die Richtung der vergrabenen Talente im Neuen Testament oder des Feigenbaums, der keine Früchte trägt?

Richtig. Für Mönche galt lange als Ursünde die acedia: Faulheit, Trägheit, Untätigkeit. Also wenn man nichts aus seinen Talenten macht, sie sprichwörtlich vergräbt. Ich vergleiche das Leben gern mit der Besteigung eines Bergs. Sünde wäre es, wenn man aus Bequemlichkeit lieber in der Hütte bleibt. Oder auf halber Höhe auf einer Almwiese, weil es da gerade so schön ist. Dann laufe ich aber Gefahr, dass ich mit dem Gipfel das Ziel meines Lebens verfehle.

Jetzt klingen Sie wie einer dieser Management-Trainer mit ihren Parallelen aus dem Leistungssport. Dann noch eine Extra-Meile zum Sinn des Lebens?

So ist das aber nicht gemeint, auch wenn religiöse Praxis alles andere als davor gefeit ist, einem Leistungsdenken zu unterliegen. Unsere Gesellschaft ist programmiert auf Erfolg, äußeren sowie inneren. Aber ist Erfolg wirklich das Ziel meines Lebens? Ist das nicht die Frucht, die ich hervorbringen soll? Im christlichen Verständnis sind das, in höchst individueller Ausprägung, Glaube, Hoffnung und als wichtigstes: Liebe.

Kann ich eigentlich mit viel Disziplin Erlösung allein aus mir selbst erreichen? Indem ich mich schonungslos ehrlich betrachte, mein Lebensziel entdecke und dann tatkräftig an seiner Umsetzung arbeite?

Ich kenne niemanden, der das kann, weil niemand perfekt ist und jeder von uns immer wieder an irgendetwas scheitert. Es spricht nichts gegen Selbst-Optimierung in Bezug auf Sünden, aber das reicht nicht. Erlösung ist ein zweiseitiges Geschehen. Ich brauche Gott dazu, indem ich ihn bitte, mir zu helfen, der Mensch zu werden, der ich bin. Zu denken, man könne das allein schaffen, wäre Hybris. Das ist die dritte Dimension von Sünde: nicht zu akzeptieren, dass meine Macht, auch über mich selbst, begrenzt ist. Dass mein Leben eine geheimnisvolle Mitte hat, derer ich mich nicht bemächtigen darf, sondern vor der ich mich nur verneigen kann. Es ist die Geschichte des Paradieses und des einzigen Baums darin, von dem Adam und Eva nicht essen dürfen. Die Schlange, die dem Menschen etwas vormacht und ihn zur Versuchung verführt, ist unsere innere Stimme, wenn wir diese Grenze überschreiten.

Sünde also als Allmachtsphantasie?

Wir wissen, wie es endet, wenn Menschen der Versuchung vermeintlicher Allmacht erliegen, die Grenze zum Heiligen überschreiten und vom verbotenen Baum essen: Das ist ein ewiges Menschheitsthema, leider in der aktuellen Weltlage hochaktuell.

Wie ist das mit dem Kreuzestod Jesu, durch den wir erlöst sein sollen? Wie funktioniert das?

Erlöst kann nur werden, wer sich auch erlösen lässt. Ich muss mich schon ergreifen lassen von Gottes Wirken. Ohne mein Zutun gibt es keine Erlösung. Das Ostergeschehen, von dem wir glauben, dass es die Sünde der Welt hinwegnimmt, ist kein Hokuspokus, sondern ein Programm, nämlich der radikalen Annahme des Lebens in all seinen Gegensätzen. Da sind wir wieder ganz am Anfang dieses Gesprächs: Das bedingungslose Ja zum Leben ist die Überwindung der Sünde. Jesus Christus’ Gang zum Kreuz ist das radikale Ja zum Leben in all seinen Gegensätzen und dadurch deren Überwindung. Er hätte sein Leben vor Pilatus auch retten können. Alfred Delp berichtet von der Achterbahn der Gefühle, die er durchmachte in der Haft vor seiner Hinrichtung. Auch er hätte sein Leben retten können, wenn er aus dem Jesuitenorden ausgetreten wäre, dieses Angebot hatten ihm die Nationalsozialisten gemacht. Aber eine innere Stimme sagte ihm letztendlich: Da musst du durch. Seine letzte Betrachtung vor dem Tod war über den Pfingstgeist, der den Aposteln neues Leben spendet. Das Leben hinzugeben, um Leben zu spenden, das ist das monumentale Programm des Ostergeschehens, dessen Anführer und Vollender Jesus war.

Bleibt zum Schluss noch der Ablass, den Papst Franziskus zum Heiligen Jahr 2025 offiziell wieder zugelassen hat – wer braucht den und wofür?

Ich habe da auch meine Verstehensschwierigkeiten. Vielleicht zur Erklärung: Ablass bezieht sich nicht auf unsere Sünden. Davon sind wir erlöst, wenn wir uns auf die Erlösung einlassen. Wir sind aber nicht erlöst von den sogenannten Sündenstrafen.

Sie meinen damit aber nicht die Folterknechte im Fegefeuer, wie sie etwa Hieronymus Bosch um 1500 sehr anschaulich gemalt hat?

Nein, das ist viel profaner. Sündenstrafen sind die Folgen unserer Sünden. Wenn ich durch meine Schuld eine Beziehung ruiniert habe, bleibt sie kaputt und der Schmerz darüber in der Regel bestehen. Wir sind alle gestraft durch unsere Schuld, und damit müssen wir irgendwie klarkommen. Sündenstrafen abbüßen heißt, sie zu ertragen lernen und einen Frieden zu finden. Dafür kann ein Ablass ein Mittel sein. In Deutschland reagieren wir durch die Reformation sehr allergisch auf diesen Begriff. Auf Italienisch heißt Ablass Indulgenza, das kann man mit „Nachsicht“ übersetzen. Das macht den Ablass sofort viel zärtlicher als Zuwendung mir und meiner gebrochenen Seele gegenüber. Aber man kann ihn mit Sicherheit nicht als Heilsgewissheit verkaufen wie im 16. Jahrhundert und schon gar nicht gegen Geld, was Luther damals zu Recht empörte.

Interview: Gerd Henghuber

  • Lesen Sie mehr über das Programm, das sich im Kreuzestod Jesu manifestiert, in dieser Predigt von P. Karl Kern SJ. LINK
  • Erfahren Sie mehr über ein zeitgemäßes Verständnis von Ablass in diesem Artikel von P. Andreas Batlogg SJ.
  • Lesen Sie, wie ein neuer Zugang zum Beichten aussehen könnte, und warum das in Sankt Michael in München gar nicht so wenige Menschen tun. LINK

Zur Person:

Karl Kern SJ

Pater Karl Kern SJ stammt aus Obernburg am Main in Unterfranken. 1968 trat er mit 19 Jahren in den Jesuitenorden ein und wurde 1976 zum Priester geweiht. Er hat als Hochschulseelsorger und Gymnasiallehrer gearbeitet. Ab 1996 baute er in Nürnberg die Cityseelsorge in der "Offenen Kirche St. Klara" auf. Von 2010 bis 2022 war er Kirchenrektor der Jesuitenkirche St. Michael in München. Seitdem ist er als Seelsorger sowie für das Fundraising der Hochschule für Philosophie in München tätig. Zudem ist Pater Kern Präses der Marianischen Männerkongregation "Mariä Verkündigung" und Kirchenrektor der Bürgersaalkirche in München.

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