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US-Wahlkampf: „Die religiösen Rechten kalkulieren mit Trump ganz pragmatisch.“

Dass Donald Trump das Attentat auf ihn überlebt habe, sei göttliche Vorsehung, glauben viele seiner evangelikalen Anhänger – Trumps moralischen Abgründen zum Trotz. Sein Vize-Präsidentschafts-Kandidat JD Vance hat sich vor wenigen Jahren katholisch taufen lassen, weil er im Katholizismus den richtigen moralischen Kompass sieht. Das wiederum hat er gemein mit dem Katholiken und regelmäßigen Kirchgänger Joe Biden. Im US-Wahlkampf spielt Religion eine wichtige Rolle und häufig auch eine, die Europäer irritiert. Grund genug bei P. Godehard Brüntrup SJ nachzufragen, der seit vielen Jahren an Universitäten der USA lehrt, derzeit St. Louis, Missouri.

Pater Brüntrup, wieso ist Religion ein so wichtiger politischer Faktor in den USA?

Die USA sind als Gesellschaft immer noch deutlich religiöser als europäische Gesellschaften, auch wenn es hier ebenfalls den Trend zur Säkularisierung gibt. Dennoch bezeichnen sich mehr Menschen als religiös, bekennen sich auch öffentlich dazu und praktizieren das auch: 28 Prozent der US-Katholiken gehen wöchentlich zur Messe, 40 Prozent der Protestanten besuchen wöchentlich einen Gottesdienst.

Aber das erklärt doch noch nicht pseudo-religiöse Deutungsmuster für Ereignisse wie das Attentat auf Trump?

Wenn hier von göttlicher Intervention gesprochen wurde, ist das ist natürlich Unsinn, auch wenn es gern geglaubt wird. Der Grund dafür liegt in der menschlichen Neigung, extrem unwahrscheinlichen Ereignissen einen Sinn zu verleihen. Und Trumps Überleben bei diesem Attentat war extrem unwahrscheinlich. Der Schütze hatte sehr präzise gezielt, und nur weil ihm ein Bild eingespielt wurde, wendete Trump leicht den Kopf, so dass das Projektil ihn verfehlte. Das hat ihm vermutlich das Leben gerettet. Für ein gleichermaßen existenziell relevantes wie unwahrscheinliches Ereignis suchen Menschen immer gern eine andere Erklärung als den Zufall. So entstand in Trumps Anhängerschaft, die ja zum Teil sehr religiös, sehr evangelikal ist, teilweise der Glaube an eine göttliche Intervention.

Wie erklärt sich das überhaupt: religiöse Überzeugung und Donald Trump mit seinen moralischen Abgründen, das passt doch nicht zusammen?

Evangelikale Christen der USA sehen die Person Donald Trump und seine Lebensführung durchaus kritisch, da machen sie sich überhaupt nichts vor. Er ist keine Erlöserfigur, aber sie sehen in ihm jemanden, mit dem sie ihre politischen Ziele durchsetzen können. Trumps Richter-Ernennungen für den Supreme Court während seiner Amtszeit haben schließlich dazu geführt, dass das sehr liberale Abtreibungsrecht (in der Praxis keine zeitlichen Einschränkungen) aufgehoben und die Gesetzgebungskompetenz an die Bundesstaaten zurückgegeben wurde. Das war eines der wichtigsten politischen Ziele der religiösen Rechten.

Was erwarten sie sich darüber hinaus von Trump?

Dass er der Aufweichung des traditionellen Gesellschafts- und Familienbilds, biologischer Geschlechterrollen usw. entgegensteht. Das sind Wertvorstellungen, die nicht nur von Evangelikalen religiös begründet werden. Wenn Trump sie schützt, sehen religiöse Konservative ihn durchaus als im "Auftrag des Herrn unterwegs", als Vollstrecker göttlicher Gebote, auch wenn seine Moral und sein Lebenswandel alles andere als vorbildlich sind.

Die religiösen Rechten bedienen sich also bewusst einer unmoralischen Person, um ihre politischen Ziele zu erreichen – ist das nicht ziemlich opportunistisch?

Ich weiß nicht, ob "opportunistisch" der richtige Begriff ist. Die religiösen Rechten sind einfach sehr pragmatisch. Sie haben eine klare Vorstellung davon, wie die Gesellschaft aussehen soll – und wie sie auf keinen Fall sein soll. Und dann schauen sie sich die politischen Optionen an und sehen, dass die Politik der Demokraten keinesfalls in die von ihnen gewünschte Richtung führt. Und dann wägen sie ab: ein Präsident Trump mit der moralischen Reife eines pubertierenden Jungen versus eine Million Abtreibungen im Jahr, wenn die Demokraten das Abtreibungsrecht wieder liberalisieren. So funktioniert das Abwägen dieser Wähler.

Aber Trump selbst sind diese gesellschaftlichen Wertvorstellungen doch egal? Auch seine Haltung zu Abtreibung ist unklar.

Ja, Trump hat früher selber für ein liberales Abtreibungsrecht geworben. Aber da war er noch nicht in einem Wahlkampf um ein Amt. Er weiß natürlich um die Bedeutung der religiösen Wähler für seinen Wahlerfolg, daher bedient er ihr Menschen- und Gesellschaftsbild. Das würde ich eher Opportunismus nennen.

Wieso ist Abtreibung in den USA überhaupt so ein Riesenthema, wieso konnte es nicht, wie bei uns, befriedet werden?

Ob es in Deutschland auf immer befriedet bleibt, daran habe ich Zweifel, wenn die christlichen Stimmen in Gesellschaft und Politik immer weniger werden. Im April hatte ja eine von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission empfohlen, Abtreibungen künftig in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen grundsätzlich zu erlauben – anstatt wie bisher „nur“ nicht zu bestrafen. Da kommt also auch bei uns etwas in Bewegung. Aber es stimmt natürlich: in Deutschland gab es einen langen und intensiven gesellschaftlichen Diskurs, der zum heute geltenden Abtreibungsrecht führte. Dieser Diskurs hat den Konflikt hierzulande befriedet. In den USA jedoch gab es einen solchen Prozess nicht, es gab und gibt nur zwei unversöhnliche Extrempositionen, von denen sich eine in den siebziger Jahren durchsetzte. 1973 erging ein Urteil des Supreme Court, das Abtreibung in den ersten sechs Monaten praktisch komplett liberalisierte und Bundesstaaten erst ab dem siebten Monat die Möglichkeit einräumte, sie zu verbieten oder einzuschränken. Aber auch in den letzten drei Schwangerschaftsmonaten konnte die nicht weiter definierte psychische Belastung einer Frau genügen, um eine Abtreibung dennoch legal vorzunehmen. In der Praxis gab es keine Einschränkung. Bis heute ist es beispielsweise im Bundesstaat Minnesota erlaubt, Kindern, die eine Spätabtreibung überlebt haben und sich eigenständig atmend außerhalb des Mutterleibes befinden, auf Wunsch der Mutter jegliche medizinische Betreuung zu verweigern. Dieses radikale Urteil, damals als Sieg der Frauenbewegung gefeiert, befriedete daher den gesellschaftlichen Konflikt in keiner Weise. Für Christen, gleich welche Konfession, blieb es vor ihrem Gewissen unerträglich, dass das Kind hier kein Rechtssubjekt darstellte. Nach der jetzigen Entscheidung des Supreme Court droht das Pendel zumindest regional wieder in die andere Richtung auszuschlagen. Einige sehr konservative Staaten haben bereits Gesetze erlassen, die Abtreibung so gut wie unmöglich machen. Frauen in diesen Staaten fürchten, dass sie gar keine Chane mehr haben abzutreiben, und dass es Abtreibungstourismus geben wird. Dieses Thema mobilisiert daher gerade Wählerinnen, es ist in diesem Wahlkampf mit 15 Prozent das zweitwichtigste Thema.

Was ist das wichtigste Thema?

Mit 22 Prozent die Wirtschaft. Dahinter kommen mit 12 Prozent die Einwanderung, dann erst mit 8 Prozent der Zustand der Demokratie in den USA. Der Klimawandel liegt bei 1 Prozent. Das ist der Grund, wieso sich Kamala Harris alles andere als sicher sein kann. Die Inflation in den vier Jahren der Biden-Harris-Regierung lag bei insgesamt ca. 25 Prozent, das ist mehr als in Deutschland. Bei Lebensmitteln sind die Preise noch viel stärker gestiegen, 50 Prozent sind keine Seltenheit. Die Reallöhne sanken, und die Leute sagen, im Übrigen auch viele Afroamerikaner und Hispanics: "Unter Trump ist es uns besser gegangen." Es gibt ein weit verbreitetes Gefühl, dass die Demokraten – zugespitzt formuliert – mehr mit Genderpolitik und Geschlechterrollen beschäftigt sind und den Mittelstand und die Arbeiterschaft im Land vergessen haben. Diejenigen, die sich als "Vergessene" fühlen, wählen in den USA Trump, ähnlich wie in Deutschland die AfD.

Wagen Sie eine Prognose, wie die Wahl ausgehen wird?

Vor der TV-Debatte hatte ich gesagt, dass das Rennen völlig offen ist. Wenn Harris in der Debatte blass bleibt oder einen Fehler macht, dann gewinnt Trump. Nun war die Debatte für Harris ein Erfolg, Trump stolperte in die Fallen von Harris und setzte seine wichtigste Botschaft, nämlich die wirtschaftliche Situation, viel zu spät ein. Jetzt sieht man einen leichten Vorteil für Harris, aber es wird sehr knapp werden. Denn die Umfragen unterschätzen Trump mit Regelmäßigkeit. Er steht heute jedenfalls gegen Harris besser da als 2016 gegen Hillary Clinton, und damals hat er gewonnen.

Wen wählen eigentlich die Katholiken in den USA?

Etwa zur Hälfte Demokraten und Republikaner, aber mit leichtem Vorteil für die Demokraten bei der Wahl von Präsident Biden 2020. Bei den Kongresswahlen 2022 stimmten dann allerdings 56 Prozent der Katholiken für die Republikaner. Viele Katholiken kamen aus Italien oder Irland als Arbeitsmigranten, sie gehörten zunächst zur Unterschicht, waren die "Underdogs" in den angelsächsisch dominierten USA. Sie wählten daher zunächst selbstverständlich die damalige Arbeiterpartei, die Demokraten. Das tun sie heute nicht mehr. Bei regelmäßigen katholischen Kirchgängern liegen heute die Republikaner bereits vorne, vor allem wegen familien- und gesellschaftspolitischen Fragen.

So wie auch bei dem vor wenigen Jahren zum Katholiken getauften Vizepräsidentschaftskandidaten J.D. Vance. Dessen politische Ansichten dürften mit denen des Papstes wenig gemein haben?

Es gibt im Katholizismus in den USA zwei Spielarten, man muss fast sagen Fraktionen: eine, die es mit Franziskus hält, und die andere, die sich an seinem Vorgänger Benedikt orientiert. Die Ersten betonen stark die soziale Frage, die Bewahrung der Schöpfung und Frieden. Den Zweiten sind traditionelle Grundwerte wichtig: die Familie, das Recht ungeborener Kinder auf Leben und die traditionelle Vorstellung von Geschlecht und Ehe. Die erste Fraktion wählt überwiegend die Demokraten, die zweite, zu der sicher auch J.D. Vance zu rechnen ist, die Republikaner. Das ist auch der Grund, wieso die amerikanische Bischofskonferenz in sehr vielen Fragen gespalten ist.

Kann man sagen, dass die Katholiken in den USA so gespalten sind, wie es im Grunde das ganze Land ist?

Die großen Spaltlinien der USA sind Geografie, Geschlecht, Bildung und Religiosität: Menschen in den Metropolen an den Küsten, Frauen, Menschen mit Universitätsabschluss und weniger religiös Gebundene wählen überdurchschnittlich die Demokraten. Die Bewohner des Landesinneren, Männer, Menschen mit geringeren Schulabschlüssen und Religiöse wählen überdurchschnittlich die Republikaner. Da geht es um ganz unterschiedliche Lebenswelten und Wertvorstellungen. Die Katholiken sind quer zu diesen großen Linien in sich gespalten in der Prioritätensetzung ihrer Themen. Je nachdem, ob sie eher die Themen von Franziskus oder die von Benedikt wichtig finden. Unter den regelmäßigen Kirchgängern dürften die Republikaner die Mehrheit haben, wenn auch nur knapp. Die katholische Kirche ist genauso gespalten wie das ganze Land.

Versuchte Joe Biden in dieser Wählergruppe zu punkten, wenn er sich immer wieder mal beim Kirchgang filmen ließ?

Nein sicher nicht. Ich kenne Joe Biden, er geht wirklich jeden Sonntag in den Gottesdienst, auch auf Reisen, das ist ihm sehr wichtig. Er hat ja mit dem Tod seiner ersten Ehefrau und Tochter bei einem Verkehrsunfall, später mit dem Krebstod seines ältesten Sohns Beau schwere Schicksalsschläge verkraften müssen, die er auch mit seinem Glauben bewältigen konnte. Religion ist ihm persönlich etwas sehr Wichtiges. Das ist keine Show.

Wissen Sie, wen Ihre Mitbrüder wählen?

Wir führen keine Meinungsumfragen durch, aber natürlich reden wir auch viel über Politik. Gegen Abtreibungen sind selbstverständlich alle Jesuiten, aber die deutliche Mehrheit unter den Mitbrüdern wählt nach meiner Einschätzung trotzdem die Demokraten. Wenn es Republikaner gibt, dann eher im Sinn des klassischen Typs wie George Bush senior. Als Anhänger von Trump hat sich mir noch keiner zu erkennen gegeben. Sein plumper Populismus stößt die auf Bildung bedachten Jesuiten ab.

Die USA gelten ja in vielen Fällen als Trendsetter. Was dort stattfindet, kommt früher oder später auch zu uns – auch der Trend zu Religion in der politischen Auseinandersetzung?

Nein, weil auch in den USA die religiöse Bindung abnimmt, und die Zahl der Konfessionslosen steigt. Auch wenn die Zahl für uns hoch erscheint: auch unter Katholiken gehen nur mehr knapp 30 Prozent am Sonntag in die Messe. Der Trend geht eher in unsere Richtung, also hin zur Säkularisierung. Was aber sicher verstärkt aus den USA zu uns kommen wird, ist die Inszenierung von Gottesdienst als Event, als möglichst perfekt zu inszenierende Performance, die die Affekte der Menschen berührt.

Interview: Gerd Henghuber

Prof. Dr. Godehard Brüntrup SJ ist Professor für Metaphysik, Philosophie der Sprache und des Geistes an der Hochschule für Philosophie in München. Seit Jahrzehnten lehrt er auch an führenden Universitäten in den USA.

Klicktipp
Wer sich für aktuelle Umfragen zum US-Wahlkampf interessiert, dem empfiehlt Pater Brüntrup das Portal Real Clear Polling.

Zur Person:

Godehard Brüntrup SJ

Pater Godehard Brüntrup SJ ist Professor für Philosophie und kommissarischer Leiter des Instituts für naturwissenschaftliche Grenzfragen zur Philosophie und Theologie (ING) an der Hochschule für Philosophie in München.

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