Andrea Scherer: Als Du gestern die ukrainisch-polnische Grenze Richtung Deutschland passiert hattest, schriebst du mir, du habest dabei ein Gefühl von Freiheit erlebt, aber auch etwas, was dich zurückzieht in die Ukraine. Hast du die Ukraine schweren Herzens zurückgelassen? Oder mit welchem Gefühl hast du sie zurückgelassen?
Mykhailo Stanchyshyn: Dieser Krieg hat mir beigebracht, mehr zu lieben, insbesondere durch meine Erfahrung in Charkiw. In der Hingabe für die anderen Menschen in Not erfuhr ich die Liebe Gottes zu jedem von uns. Gott hat mir geholfen, im Krieg mehr zu lieben; zuerst ihn selbst in einer tieferen Nähe des völligen Vertrauens und dann die anderen Menschen, also mein Land: Ich bin heute sehr glücklich, dass ich Ukrainer bin.
Seit Beginn des Krieges 2014 trage ich diese ukrainischen Hemden, mit traditionellen ukrainischen Stickereien; das ist eine meiner geistlichen Waffen, ein spiritueller Abwehrschild, weil Putin und die Russen an seiner Seite uns ausziehen wollen: unsere Sprache verbieten, unsere Kultur, unseren Glauben, unsere Identität auslöschen. Also, ich trage dieses Hemd als Widerstand und aus Liebe zu meinem Land.
Und ich habe durch diesen Krieg gelernt, die Kirche mehr zu lieben, mehr Christ zu sein und andere Menschen bewusster zu lieben.
Andrea Scherer: Mehr Christ zu sein was heißt für dich an dieser Stelle?
Mykhailo Stanchyshyn: Mehr Christ zu sein, es bedeutet für mich an erster Stelle keinen Wert, keinen moralischen Anspruch oder gar eine religiöse Leistung, sondern es bedeutet für mich eine Ausrichtung zuerst und allein auf die Person Jesu Christi, vor allem mehr Begegnung mit ihm.
Was mich z.B. in Charkiw geistlich gestärkt hat: neben unserer Kirche, da wo wir gleich ab Beginn des Krieges Unmassen von Hilfsgütern an Tausende von Menschen verteilten, da gab es ein großes Kreuz, ohne Corpus Christi. Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass ich immer, wenn ich dort im Frühjahr 2022 zum Himmel schaute, ob wieder Raketen aus den Wolken fallen, ich automatisch auch dieses Kreuz sah. Dieses Kreuz aus Holz hat mich irgendwie geschützt vor den Raketen aus Metall. Ich hatte immer dieses Kreuz vor Augen und in meiner Nähe. Ich hatte Angst vor vielen Bomben und Raketen, die immer über unsere Köpfe flogen, bei Tag und bei Nacht. Und ich sah immer dieses Kreuz, das große Kreuz und das Kreuz aus Holz. Mit der Zeit habe ich gelernt, bewusster auf das Kreuz zu schauen. Es war wie eine Einladung zu einer lebendigen Begegnung! Und ich hatte immer das Gefühl, dass in der Früh, wenn wir samt Bischof alle zu unserer Kirche kamen und zum Humanitären Hilfszentrum, dass Jesus immer in der Frühe, wenn es noch nicht ganz hell war, vom Kreuz herabstieg, um uns zu umarmen, und durch uns, durch meine Hände und unsere Arme andere Menschen zu umarmen. Und wenn sich der Tag dann neigte, am Abend, spät am Abend, da ging Jesus wieder ans Kreuz zurück und blieb da die ganze Nacht für uns alle, damit kein Mensch auf der Erde verliert und verloren geht. Am hellen Tag war das Kreuz leer und dies schenkte uns die Gewissheit, dass Jesus mit uns und in uns weilte. Mehr Christsein in meiner Erfahrung heißt eine tiefere Beziehung mit der Person Jesus, nicht so sehr mit seiner Philosophie oder seinen Werten. Wir sprechen zu viel von großer christlicher Tradition und von Werten und verlieren oft den Kern des Glaubens aus den Augen.
Darin steckt eine Gefahr zu entchristlichen, nämlich dass wir das wirklich Christliche verlieren. Wenn wir nur nach christlichen Werten streben, das ist der breite Weg, das ist nicht genug und eine große Versuchung. Die Person Jesu, die Begegnung zwischen Gott und dem Menschen, die Begegnung von Mensch zu Mensch ist das Entscheidende und der schmale Weg! Jesus kam und kommt in die Welt, um uns zu begegnen. Der christliche Glaube, das ist der Glaube an die Begegnung von Vater, Sohn, und Heiligem Geist. Wir sind geschaffen zur Begegnung mit Gott, miteinander und mit uns selbst. Und das ist christlich, das zutiefst Christliche. Und das habe ich dort in Charkiw erlebt, in der Sprache des Ignatius von Loyola und seiner Exerzitien ist das die Erfahrung der „dritten Woche“ in Begegnung mit dem Gekreuzigten und mit den gekreuzigten Menschen, mit einem ganzen Volk am Kreuz Jesu; Christlich-sein und Mensch-sein, in Begegnung mit Christus und untereinander, bedeutet für mich im Krieg: das Dasein nicht dem Primat und der Macht der Angst zu unterwerfen!
Heute Morgen hatte ich bereits ein anderes Interview und der Journalist stellte mir die Frage, welche Bitte ich an die Menschen in Deutschland habe. Meine große Bitte ist, keine Angst zu haben, vor Russland, vor der russischen Armee, den russischen Waffen. Wo Liebe ist, verliert die Angst ihre Macht. Und da kommt die Beziehung zu Jesus für mich wieder zum Tragen. Wenn die Beziehung zu Jesus nicht da ist, wenn ich aus der Liebe Jesu nicht schöpfe, kann ich andere Menschen in ihrer Not nicht lange stützen. Ich habe bald selbst keine Kraft mehr. Wenn ich schaue, was mich im Krieg immer wieder aus dem vergleichsweise sicheren Lwiw im Westen der Ukraine in das ständig umkämpfte Charkiw im Nordosten, nahe der Front gezogen hat, glaube ich, dass dahinter die Liebe zu diesen Menschen steht. Liebe, sie ist nicht immer euphorisch oder emotional. Das ist nicht wie verliebt sein. Ich glaube, es ist eher wie mütterliche oder elterliche Liebe, nach vielen gemeinsam durchwachten Nächten. Das ist genau diese Liebe, mit viel Sorge auch. Sie ist nicht so weich oder romantisch, sondern sie ist wirklich verwurzelt, kein Gefühl, mehr ein Kreuz und eine Entscheidung des Herzens, die trägt und zieht.
Ja, was zieht mich? Es ist die Zugehörigkeit zu meinem Volk. Ich bin glücklich, dass ich in der Ukraine geboren bin. Und das ist für mich nicht selbstverständlich. Ich habe als Kind in der Tschechoslowakei gelebt, meine Mutter hat polnische Wurzel, mein Vater war Ukrainer, ich bin ein Kind der Sowjetzeit. Russisch dominierte in der Schule. Das Buch der ukrainischen Geschichte war ein dünnes Bändchen, ukrainische Literatur und Sprache war unerwünscht. Und deswegen war ich eigentlich auf gewisse Weise entwurzelt. Aber meine polnische Mutter hat mir die Liebe zum Ukrainischen beigebracht. Meine Mutter ist römisch-katholisch, aber sie ließ mich in der ukrainisch-griechisch-katholischen Kirche taufen, die zu der Zeit der Sowjetunion nur im Untergrund existierte.
Und so habe ich bei meiner Mutter die Liebe zur Ukraine und überhaupt zu Menschen erfahren. So durfte ich mich z.B. sehr gut in die deutsche Gesellschaft einbringen. Das verdanke ich meiner Mutter. Ich habe von ihr nie gehört, dass es gute und schlechte Menschen gibt, sondern dass die Liebe entscheidend sei, die einfach allen Menschen zukomme und die aus Jesus komme.