Judentum und Christentum werden daher heute oft als Geschwisterreligionen bezeichnet. Doch bereits die Bibel weiss, dass Beziehungen unter Geschwistern nicht einfach sind, vor allem wenn es um das Erben geht. Evagrius Pontikus (345-399) vergleicht Juden und Christen denn auch lieber mit den zwei Kundschaftern, die ins verheissene Land gegangen sind und mit einer grossen Traube an einer Stange zurückkehrten. (Num 13) Beide zeugen von der Fülle der Verheissungen Gottes und sind dahin unterwegs. Beide schauen in die gleiche Richtung. Da die Juden vorausgehen, haben sie die Traube im Rücken. Sie können und müssen sie nicht sehen. Sie tragen sie. Die Christen hinten aber blicken auf die Traube. Für Evagrius ist dies Christus, der sein Leben mit seinem Blut dahingegeben hat. Die Christen blicken auf dem Weg ins gelobte Land auf ihn. Entscheidend dabei ist, dass Juden und Christen untrennbar auf das Reich Gottes hin unterwegs sind, um einen anderen Ausdruck für das "gelobte Land" zu verwenden.
Gerade in Gebet und Liturgie sollte diese Gemeinsamkeit zum Ausdruck kommen. So müsste das vierte eucharistische Hochgebet präziser formuliert werden, wenn es da in der heilsgeschichtlichen Erinnerung heisst: "Immer wieder hast du den Menschen deinen Bund angeboten und sie durch die Propheten gelehrt, das Heil zu erwarten." Gott hat nicht allgemein zu den Menschen gesprochen, sondern mit den Juden einen Bund geschlossen, der, wie der neue Bund in Christus, bis heute ungekündigt ist. Das Gebet müsste also lauten: "Mit Israel hast Du einen Bund geschlossen und dein Volk gelehrt durch die Propheten, das Heil zu erwarten." Angesichts der gemeinsamen Berufung müssten auch im Neuen Testament verschiedene Stellen neu übersetzt werden. Dies gilt zum Beispiel für Passagen, die von Jesu Diskussionen mit einigen Schriftgelehrten und Pharisäern über die göttlichen Weisungen erzählen. Nach einer dieser Streitgespräche übersetzt die neue Einheitsübersetzung von 2016: "Die Pharisäer aber gingen hinaus und berieten gegen ihn [Jesus], wie sie ihn umbrächten." (Mt 12,14) Da ist späterer Antijudaismus hineingelesen. Nach einer Gelehrtendiskussion will man sich ja nicht gerade umbringen! Korrekter wäre die Übersetzung: "Die Pharisäer... berieten sich gegen ihn, wie sie ihn los würden." Dass man Gegner mit anderen Ansichten nicht in den eigenen Reihen haben will, ist verständlich.
Die beiden Beispiele zeigen: Nicht nur unbewusst weitergegebener Antijudaismus gilt es zu überwinden. Auch eine positive Anerkennung der jüdischen Berufung an der Seite der christlichen ist von Nöten. Zuweilen sind die Aufgaben komplementär, oft aber aufeinander bezogen und miteinander verflochten. Gerade im Blick auf das Judentum kann sich christliche Berufung in der Welt von heute erneuern. Das ist eine wunderbare Frucht des Dialogs. In diesem Sinne braucht es einen vertieften Dialog, um sich gegenseitig in der je eigenen Theologie und Spiritualität zu verstehen und zu fördern.
Christian M. Rutishauser SJ