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"Im Gefängnis habe ich viele wunderbare Menschen kennengelernt."

Der Jesuit P. Helmut Schumacher SJ arbeitete ein halbes Jahr mit jungen Strafgefangenen der Strafanstalt auf Rikers Island, New York. Das Projekt Thrive for Life will den Gefangenen, die unter schwierigen Bedingungen eingesperrt sind, Würde zurückgeben und Zukunftsperspektiven öffnen. Im Interview spricht P. Schumacher darüber, was es bedeutet "gefangen zu sein" und welche Auswirkungen dies auf die Menschen hat.

Pater Schumacher, wie muss ich mir die Situation im Gefängnis auf Rikers Island vorstellen?

Es ist nicht nur ein Gefängnis, auf der Insel im East River zwischen der Bronx und Queens befinden sich insgesamt zehn Gefängnisse in der Zuständigkeit der Stadt New York. Der Komplex ist fünfmal so groß wie Alcatraz in der Bucht von San Francisco. Mit bis zu 17.000 Gefangenen ist es das größte Gefängnis der Welt. Und die Zustände dort sind sehr schlecht. Bis zu 80 Männer teilen sich einen riesigen Schlafsaal, jeder hat nur ein Bett und eine Box für persönliche Gegenstände. Alles ist jederzeit einsehbar, es gibt keinerlei Privatsphäre.

Mit wem hatten Sie es bei Ihrer Arbeit zu tun?

Wir arbeiteten mit Strafgefangenen etwa bis zu 40 Jahren, von denen sind manche bereits 20 oder 25 Jahre in Haft und leben bereits diese lange Zeit unter diesen Bedingungen.

20 Jahre? Was war denn deren Verbrechen?

Die Schwere ihrer Straftaten ist sehr unterschiedlich. Aber die Amerikaner sind beim Wegsperren nicht zimperlich, auch wenn die Täter noch Jugendliche sind. Wenn sie jetzt 40 sind und 25 Jahre drin waren, dann können Sie sich leicht ausrechnen, in welchem Alter sie inhaftiert wurden. Diese Menschen verbringen die Blüte ihres Lebens unter diesen schlimmen Bedingungen.

Was konnten Sie für diese Menschen tun?

Das Projekt Thrive for Life, auf Deutsch etwa „Das Leben zum Blühen bringen“, hat zwei Säulen, behind und beyond prison: Behind, also hinter den Gefängnismauern, besuchen wir die Menschen in Haft als Seelsorger, bieten Gespräche an, beten mit ihnen. Samstags veranstalten wir einen Besinnungstag mit Wochenrückblick, Bibelgespräch, einem gemeinsamen Mittagessen, einer Messe und viel Zeit, um zu reden und zuzuhören. Unsere Aufgabe sehen wir hier vor allem darin, den Menschen Hoffnung zu geben, damit sie die Zeit im Gefängnis bestehen.

Beyond bedeutet, dass wir eine Perspektive für die Zeit nach dem Gefängnis anbieten. Dafür wurde das Ignatio-Haus umgebaut, in das Entlassene ziehen können, wenn sie eine Berufsausbildung machen wollen. Manche studieren sogar. Es soll ein sicherer Ort sein nach den schlimmen Erfahrungen im Gefängnis und ein Ort, in dem wir sie begleiten beim Weg zurück in das nur für uns so normale Leben.

Wie meinen Sie das?

Naja, das ist zum einen die Technik, die es vorher noch nicht so ausgeprägt gab: E-Mail, Handy, Internet. Viel wichtiger ist aber der innere Prozess, den die Entlassenen nachzuholen haben: Ihr ganzes Erwachsenenwerden haben sie eingesperrt verbracht.

Was macht das mit einem?

Es macht einen wertlos. Nicht objektiv natürlich, aber die Menschen kommen sich wertlos vor. Nicht mehr als ein Geschöpf Gottes mit Freiheit und eigener Verantwortung. Im Gefängnis hängt alles von anderen ab. Selbst kann man so gut wie nichts entscheiden. Und das muss man erst einmal ertragen lernen, etwa den Gedanken, dass draußen Vater oder Mutter sterben könnten, ohne dass man sie noch einmal sehen könnte. Es ist klar, dass das die Persönlichkeit beeinflusst. Umso wichtiger ist es, dass die Menschen nach ihrer Haft lernen, was ihnen dort gefehlt hat.

Was ist das?

Vor allem die Fähigkeit sich zu entscheiden. Die Freiheit zu haben, dies oder jenes zu tun, und darüber einen schlüssigen Weg für sich zu entwickeln. Das ist eine ganz normale Entwicklung des Erwachsenwerdens. Im Gefängnis ist dafür aber kein Raum. Umso wichtiger ist es, dass die Menschen nach der Entlassung lernen, ihre Rolle im Leben zu finden und es in Verantwortung gegenüber sich selbst und anderen zu führen. Denken Sie auch an Liebe und Beziehung, da fangen manche nach der Haft bei Null an. Das Ignatio-Haus will ein Umfeld schaffen, das für diesen Prozess Sicherheit gibt, und eine Atmosphäre der Wertschätzung, des Respekts, der Liebe. Gefängnis ist genau das Gegenteil davon!

Auf welche Resonanz sind Sie mit ihrer Arbeit gestoßen?

Die Resonanz war fast durchweg gut. Ich denke, das liegt daran, dass die Menschen spüren, dass wir sie ernst nehmen und wertschätzen. Wir versuchen ja genau das Gegenteil von ihrem Gefängnisalltag zu sein: wir schauen die konkrete Person an, wenden uns dem Individuum zu. Die freuen sich darauf, fühlen sich ernst genommen und wertgeschätzt, und außerdem sind die Besuche eine Abwechslung. Hinzu kommt, dass viele Gefangene aus Lateinamerika stammen, die haben noch mehr Bezug zum Beten, zur katholischen Kirche.

Wie sind Sie selbst auf Ihrem Weg da hingekommen, nach Rikers Island?

Ich hatte den Provinzial darum gebeten, vor dem Terziat noch ein paar Monate im Ausland zu verbringen und habe einfach begonnen, nach Projekten zu recherchieren. Der Gründer von Thrive for Life P. Zachariah Presutti SJ war dann ganz unkompliziert und meinte: klar, komm vorbei, mach mit.

Hatten Sie eine besondere Motivation für das Thema Gefangenenseelsorge?

Das Umfeld Gefängnis in den USA hat mich schon gereizt. Aber mehr noch ist es mir wichtig, bewusst an die Ränder der Gesellschaft zu gehen, und den Menschen dort nahe zu sein. Ich habe so viele wunderbare Menschen kennengelernt im Gefängnis – trotz der furchtbaren Umstände und trotz der schwierigen Biografien, vor allem im Beyond-Projekt nach der Haft: Die wollen wirklich etwas Neues aus ihrem Leben machen, sich auf den Weg begeben und ihren Platz finden.

Wollen Sie nach dem Terziat weiter im Bereich Gefangenenseelsorge arbeiten?

Ich werde mal schauen. Zuerst steht noch ein Aufenthalt in Uganda an, wo ich mit Geflüchteten arbeite, und dann werde ich das Terziat im Libanon verbringen. Im Gespräch mit dem Provinzial werden wir dann schauen, was meine zukünftige Aufgabe sein wird.

Interview: Gerd Henghuber
 

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