Ich selbst war in meinen ersten Wochen viel mit den Family-Visit-Teams direkt im Kontakt mit den Familien. Wir verteilten Atemmasken, Lebensmittelkörbe, Decken und Planen, holten Informationen ein, die wir dann an unsere Psychiater weitergaben, die dann den Kontakt mit den Betroffenen herstellen. Die Suizidrate in diesen Familien ist nach wie vor sehr hoch, und viele verschleppte Frauen und Kinder sind mit schweren Depressionen, Psychosen und schwer traumatisiert zurückgekehrt, genauso wie viele Jungen, die vom IS gefangen genommen wurden und mittels Gewalt und Gehirnwäsche zu Kämpfern ausgebildet und zum Schießen und Morden gezwungen wurden.
Ich bin überrascht und tief beeindruckt von der Bereitschaft dieser Menschen, uns ihr Vertrauen zu schenken und sich uns zu öffnen. Obwohl ich die Sprache nicht beherrsche und ich auf Übersetzungen angewiesen bin, sind die Begegnungen mit ihnen für mich doch sehr persönlich. Und sie sind bereichernd und überfordernd zugleich. Bisher Selbstverständliches wird kostbar, und bisher Unvorstellbares wird Realität. Vor wenigen Tagen durfte ich eine achtköpfige Gruppe 15-17jähriger Mädchen erleben, die mit unserer Sozialarbeiterin und einem Psychologen in unserem Zentrum zusammenkamen. Bis vor wenigen Wochen arbeitete ich selbst mit jungen Mädchen am Canisius-Kolleg in Berlin, hier sehe ich nun Gleichaltrige, die in mehrjähriger Gefangenschaft Folter, Ausbeutung und zigfachen sexuellen Missbrauch erleben mussten. Die Diskrepanz der Erlebnis- und Erfahrungswelten dieser jungen Frauen ist erschütternd. Ich bin dankbar, dass es dem JRS möglich ist, hier solch hervorragende Arbeit zu leisten, damit diese Mädchen wieder ein Stück Lebensqualität erhalten.
Beeindruckend ist die Solidarität der hier in Sharya lebenden Iraker: vor ihren Toren, aber auch auf jedem freien Platz in der Stadt ließen sie in den letzten sechs Jahren tausende jesidische Familien Zuflucht finden. Kein Fremdenhass, kein Argwohn, sondern solidarische Gastfreundschaft, da die meisten Bewohner von Sharya selbst in den letzten fünfzig Jahren als Binnenvertriebene hier ein neues Zuhause finden konnten.
90% der Familien, die der JRS betreut, können sich nicht vorstellen, in ihre Heimat nach Sindschar oder Mossul zurückzukehren, da die Lage dort nach wie vor unsicher ist und das Zusammenleben mit den dortigen Sunniten, die sie damals nicht verteidigt haben bzw. sogar mit den IS-Milizen kollaboriert haben, nicht denkbar ist. Hier ist noch viel Versöhnungsarbeit zu leisten.
Damit sie nicht den beschwerlichen, teuren und gefährlichen Weg nach Europa, in eine fremde Kultur antreten müssen, hilft der JRS, damit sie hier ein neues Leben aufbauen können.
Fragen nach Klarheit und einem eindeutigen Standpunkt zur Flüchtlingsproblematik, wie sie in Deutschland immer wieder gestellt werden, sind hier in den Hintergrund gerückt. Was ich sehe ist, dass niemand freiwillig seine Heimat verlässt und über jede Hilfe dankbar ist. Damit Menschen nicht einen gefährlichen Weg ins gelobte Land „Europa“ auf sich nehmen müssen, kann vor Ort viel getan werden. Im Kleinen durch NGOs wie den JRS und im Großen durch eine mutigere Bekämpfung von Leid, Fluchtursachen und Ungerechtigkeit auf weltpolitischer Ebene.
Mein Aufenthalt hier hat mich mit tiefer Verzweiflung, Leid und Schmerz IS-Überlebender konfrontiert, aber auch ein irakisches Volk gezeigt, das mit großer Solidarität, Hilfsbereitschaft und Hoffnung auf eine bessere, vor allem friedliche Zukunft lebt – die möglich ist, wenn wir sie dabei unterstützen.