Was bewegt Menschen, wenn es um Migration geht – jenseits der großen Politik, ganz konkret vor Ort? Unter dem Motto „Migration zwischen Mut und Mythen“ hat sich P. Fabian Retschke SJ vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) Deutschland auf eine Gesprächsreise durch die Lausitz begeben. Dort suchte er den Dialog: mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern, mit Skeptikern, mit Menschen, die selbst Migrationshintergrund haben. Im Interview berichtet er von seinen Begegnungen, drängenden Fragen und warum es Mut braucht, um Migrationsmythen zu hinterfragen.
Pater Retschke, wie kamen Sie auf die Idee, eine Gesprächsreise durch die Lausitz zu unternehmen?
Unsere Arbeit beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Deutschland konzentriert sich darauf, Asylsuchenden, geflüchteten oder anders eingewanderten Menschen beizustehen. Gleichzeitig beobachten wir, dass sich die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland verändert, besonders stark in Ostdeutschland und in ländlichen Regionen. Die Gesprächsreise war der Versuch, wieder stärker mit den Menschen vor Ort den Dialog zu suchen.
Warum hat Sie die Gesprächsreise gerade in die Lausitz geführt?
Ich stamme selbst aus der Lausitz – mir kann also niemand vorwerfen, die ostdeutsche Mentalität nicht zu kennen. Durch meine biografischen Wurzeln habe ich einen Bezug zu den Menschen dort. Das haben wir als Chance gesehen, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.
Wie sind Sie in die Gespräche eingestiegen?
Wir haben mit Reflexionsfragen begonnen: Was würde ich vermissen, wenn ich meine Heimat verlassen müsste? Was würde mich dazu bewegen, in ein anderes Land zu gehen? Was brauche ich, damit ich mich heimisch fühlen kann? Solche Fragen bringen uns als Menschen näher.
Denn wenn wir über „Flüchtlinge“ oder „Migranten“ sprechen – alleine schon wenn wir solche Worte verwenden –, besteht die Gefahr, dass wir diese Menschen auf eine einzige Eigenschaft reduzieren. Aber hinter solchen Worten stehen Menschen – Menschen mit den gleichen Bedürfnissen, Nöten und Zukunftswünschen wie wir alle.
Wer ist zu Ihren Gesprächsangeboten gekommen?
Ich habe Menschen getroffen, die sehr differenzierte Positionen zum Thema Einwanderung haben. Viele kennen die konkreten Herausforderungen vor Ort. Oft geht es um ganz praktische Geschichten, etwa wie das Zusammenleben in einem Haus funktioniert oder wie Kinder mit Migrationshintergrund in der Schule zurechtkommen. Gleichzeitig haben viele auch positive Erfahrungen gemacht, besonders in kirchlichen Kontexten: vor allem, wenn die ganze Gemeinde beteiligt und motiviert war, sich den eingewanderten Menschen gegenüber zu öffnen und mit ihnen in Kontakt zu treten.
Was brennt den Menschen in Sachsen unter den Nägeln, wenn es um Geflüchtete geht?
Ein großes Thema ist der Bereich Arbeit. Viele erwarten, dass Menschen, die hier leben wollen, sich durch Arbeit einbringen. Was oft nicht bekannt ist: Es ist für Geflüchtete gar nicht so einfach, arbeiten zu dürfen. Der Staat verbietet das erstmal für einen bestimmten Zeitraum. Diese Menschen müssen immer wieder kämpfen, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Es wird zum Beispiel geprüft, ob nicht Einheimische für die Stelle infrage kommen. So haben viele Geflüchtete schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben die Bedingungen dafür einfach viel zu bürokratisch gestaltet. Dadurch machen wir es diesen Menschen unnötig schwer – und uns natürlich auch.
Ihre Gesprächsreise hat Sie in die Lausitz geführt. Wären Ihre Gespräche woanders in Deutschland anders verlaufen?
Sicher. In anderen Gegenden, wo ohnehin viele Veranstaltungen zu Migration und Flucht stattfinden, wären die Gespräche vielleicht gewohnter gewesen. Aber gerade deshalb war es uns wichtig, bewusst in Regionen zu gehen, in denen das nicht der Fall ist. Besonders in ländlichen Räumen wollen wir ein Zeichen setzen – für die Zugewanderten und für die Menschen, die sich für sie engagieren: „Ihr seid nicht allein! Was ihr tut, lohnt sich. Ihr macht wertvolle Erfahrungen mit Menschen, die sehr dankbar sind, dass sie jemanden haben, der ihnen zur Seite steht.“
Ihre Gesprächsreise stand unter dem Motto „Migration zwischen Mut und Mythen“. Warum Mut?
Wir haben bei der Gesprächsreise Videos gezeigt von Menschen, mit denen wir beim JRS zusammenarbeiten. Sie erzählen von ihrem Ankommen in Deutschland und ihren Wünschen für die Zukunft. Diese Geschichten sind sehr ermutigend. Deswegen stand die Gesprächsreise auch unter dem Motto „Mut“.
Und was hat es mit den „Mythen“ auf sich?
Es ging darum, ein paar gängige Mythen zu entzaubern, indem man auf empirische Tatsachen verweist. Wenige wissen beispielsweise, dass Migration größtenteils geräuschlos und legal stattfindet und die meisten bald nach der Ankunft arbeiten, oft sogar in für uns systemrelevanten Berufen. Darauf machen auch Forschung und kritische Medien aufmerksam, dass viele Behauptungen ohne Grundlage und Nachweis im Umlauf sind und Debatten verzerren. Ziel war es daher, anhand von Fakten und Zahlen aufzuklären und anschließend in den konstruktiven Dialog zu gehen. Konkret ging es um die Fragen:
Wie gestalten wir das Zusammenleben? Was ist uns wichtig dabei? Welchen Beitrag erwarten wir von Menschen, die zu uns kommen und hier leben wollen? Solche Fragen bringen uns weiter. Fragen, ob jemand überhaupt berechtigt ist, hier zu sein, tun das nicht.
Warum halten sich manche Mythen über Migration so hartnäckig?
Durch solche Mythen wird Angst gemacht und eine Stimmung erzeugt, die zu Feindseligkeit und tatsächlich auch zu Ablehnung, Ausgrenzung und sogar gewalttägigen Übergriffen führt. So kann es nicht weitergehen! Sie entsprechen einfach nicht der Wirklichkeit, aber erzeugen auf diese Weise eine Wirklichkeit, die problematisch ist. Zum Glück sind viele Menschen noch erreichbar dafür. Sie hinterfragen dann solche Aussagen, weil sie ahnen, dass sie oft nur anekdotisch belegt sind.
Was tun Sie beim JRS gegen solche Mythen?
Es wird oft über Verständigung geredet und wie wichtig es ist, den Menschen zuzuhören. Der JRS ist eine Organisation, die keine parteipolitischen Ziele verfolgt – wir sind keine Partei und haben keine Nähe zu einer Partei. Aber wir ergreifen Partei für die Menschen, die hier sonst keine Stimme haben, die in der Regel von politischer Partizipation sogar ausgeschlossen sind. Das haben wir auch bei der Gesprächsreise getan.
Haben Sie Tipps, wie man im Alltag mit solchen Mythen umgehen kann?
Wenn mal wieder im Familienkreis platte Argumente wiederholt werden, kann man durchaus einmal antworten: Ganz so ist es nicht! Es lohnt sich, nachzufragen: Kann das wirklich stimmen? Oft sind solche Aussagen emotional aufgeladen. Gerade dann ist es gut, mit einem kühlen Kopf an die Sache ranzugehen: Was ist wirklich dran an dieser Aussage? Weder übertriebene Euphorie noch Panikmache sind hilfreich für die Lösung der Herausforderungen, die es ja tatsächlich gibt. Was hilft, ist nüchtern die anstehenden Aufgaben zu bearbeiten und menschlich im Umgang mit diesen Menschen zu bleiben.
Gab es etwas, das Sie in den Gesprächen besonders gefreut hat?
Ja, die Aufgeschlossenheit, Offenheit und Anerkennung, dass die meisten Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund gut in dieses Land integriert sind und eine Bereicherung darstellen.
Gab es auch Gegenwind gegen Ihre Aktion?
Bei der Aufklärung über Mythen. Das ist nicht immer einfach, weil teilweise feste Glaubenssätze entstanden sind. Was die Migrationsforschung zu einem Thema sagt, muss nicht überzeugend sein für jemanden, der etwas anderes erlebt hat. Aber es gab keine feindseligen Reaktionen. Im Gegenteil: Es wurden deutlich Erwartungen formuliert, was sich die Menschen von den Eingewanderten erwarten – und das finde ich völlig legitim.
Hat sich Ihre Gesprächsreise gelohnt?
Ja, auf jeden Fall. Ich habe nicht erwartet, dass ich Menschen, die dem Thema Migration gegenüber sehr kritisch eingestellt sind, mit einer neunzigminütigen Veranstaltung umstimmen könnte. Aber wir als JRS haben einen besseren Eindruck davon bekommen, was die Menschen bewegt und was in diesem Land passiert.
Was nehmen Sie von dieser Gesprächsreise mit – für Ihre Arbeit und für sich selbst?
Für den JRS: wie relevant Dialog und Aufklärung bleiben und dass auch die Aufnahmegesellschaft unser Thema ist. Sie muss uns genauso am Herzen liegen wie die Zugewanderten und Ehrenamtlichen, mit denen wir arbeiten. Und für mich persönlich: ganz viel Lust, weiterzumachen. Ich spüre, dass diese Arbeit sinnvoll ist und gebraucht wird.




