Ethische Überlegungen zur Corona-Krise

Die gegenwärtige „Corona-Krise“ konfrontiert uns mit schwerwiegenden moralischen Problemen. Diese Probleme betreffen nicht nur den medizinischen Bereich, wenn etwa angesichts knapper Ressourcen entschieden werden muss, welche Patienten noch auf Intensivstationen behandelt werden können und welche leider nicht mehr. Es geht auch um die Frage, wie hoch der Preis sein darf, den man durch die Nebenwirkungen der politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zahlen muss. Im Folgenden möchte ich diese Frage aufgreifen und einige ethische Überlegungen zur Diskussion stellen.

Ethik setzt voraus, dass Menschen zu freien Entscheidungen fähig sind, für die sie Verantwortung tragen. Sie will überzeugende Kriterien zur Verfügung stellen, mit denen man zwischen verantwortlichen und unverantwortlichen Handlungen unterscheiden kann. Ein solches grundlegendes Kriterium könnte man etwa so formulieren: Eine Handlung ist moralisch unverantwortlich, wenn sie diejenigen Werte, die man mit ihr anstrebt, auf die Dauer und im Ganzen untergräbt oder unnötig andere Werte opfert. Werte sind zunächst einfach Korrelate des willentlichen Strebens. In jeder Handlung streben wir irgendwelche Werte an oder suchen irgendwelche Übel zu vermeiden. Das ist unausweichlich, und es handelt sich dabei noch um einen vorethischen Sachverhalt. Die ethisch zentrale Frage ist gar nicht so sehr, welche Werte wir anstreben sollen, sondern ob wir den Werten, für die wir uns entscheiden, auch auf die Dauer und im Ganzen, also in einer uneingeschränkt-universalen Betrachtungsweise, gerecht werden oder nicht. Unverantwortliches Handeln hat die Struktur von „Raubbau“ oder „Kontraproduktivität“; es läuft insgesamt nur auf die Zulassung bzw. Verursachung von Schaden hinaus, nämlich auf die Zerstörung von Werten. Ethik fordert aber nicht rigoristisch, immer das jeweils Bestmögliche zu tun. Es gibt einen Unterschied zwischen „gut und schlecht“ und „gut und besser“. Streng verpflichtend ist nur Schadensminimierung, alles darüber hinaus wird nachdrücklich empfohlen.

Wenn man diese Ethik auf die derzeitige Situation anwendet, ließe sich Folgendes sagen: Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie dürfen nicht kontraproduktiv sein, sie dürfen also auf die Dauer und im Ganzen nicht gerade diejenigen Werte untergraben, die man mit ihnen erreichen will, und sie dürfen auch nicht unnötig andere Werte opfern. Sie müssen also „verhältnismäßig“ sein. Das Hauptziel dieser Maßnahmen ist die Rettung von Leben. Falls aber diese Maßnahmen überschießend sind, könnte es etwa durch einen wirtschaftlichen Totalausfall und dessen Folgeerscheinungen (z. B. Versorgungsprobleme, Kriminalität, soziale Unruhen, sogar Krieg) zu einem insgesamt noch viel größeren Verlust an Menschenleben kommen. Auch andere Werte dürfen dabei nicht unnötigerweise beeinträchtigt werden, man denke etwa an den Wert der Freiheit oder an bestimmte Merkmale einer offenen Gesellschaft. Es geht also um die rechte Balance: Man darf nur so viel Schaden zulassen, wie dies unbedingt nötig ist, um den angestrebten Wert zu erreichen. Sicher wird man darüber hinaus sagen können, dass „Leben“ ein besonderer Wert ist, weil Leben ja die grundlegende Voraussetzung dafür ist, andere Werte überhaupt anstreben zu können. Gerade jetzt erkennen wir vielleicht wieder besonders deutlich den Wert des Lebens. In Krisen zeigt sich, was wirklich wichtig ist, worauf es eigentlich ankommt.

Ein wichtiges Problem der Ethik besteht auch darin, dass wir häufig unter Zeitdruck und unter Bedingungen von Ungewissheit handeln müssen. Prognosen können sich als unzutreffend herausstellen, Entwicklungen können völlig anders verlaufen als ursprünglich gedacht. Selbst die beste Wissenschaft kann uns keine Unfehlbarkeit garantieren. Ob eine Handlung tatsächlich verantwortbar ist, lässt sich oft nur vermuten. Es ist deshalb notwendig, aufmerksam zu bleiben, das eigene Handeln gegebenenfalls anzupassen und in diesem Sinn aus Schaden klug zu werden. Auch ethische Einsicht entwickelt sich durch „Versuch und Irrtum“, „trial and error“. (Leider lehrt die Geschichte der Menschheit, dass man immer wieder die Mühe scheut, aus ihr tatsächlich zu lernen.) Und gerade in Bereichen, in denen wir die Auswirkungen unseres Handelns noch kaum abschätzen können, empfiehlt sich dringend eine „Strategie der kleinen Schritte“, welche die Möglichkeit bestehen lässt, notfalls gegenzusteuern. Dadurch lässt sich Schaden begrenzen.

Wie verhält sich Ethik zum christlichen Glauben? Ethik ist meines Erachtens Sache der Vernunft. Man kann sich für die Begründung von moralischen Normen nicht auf den Glauben berufen, weil der Glaube allein auf die in der christlichen Botschaft offenbar werdende Selbstmitteilung Gottes an seine Schöpfung gerichtet ist. In der Ethik zählen also nur Vernunftargumente. Gerade darauf bezieht sich ja etwa auch die traditionelle katholische Rede vom „natürlichen Sittengesetz.“ Aber der Glaube als das berechtigte Vertrauen auf ein letztes Geborgensein entmachtet die Angst des Menschen um sich selbst und schenkt so die Freiheit, das mit der Vernunft als moralisch richtig Erkannte zu tun, einfach weil es richtig ist, auch wenn das für einen selbst Nachteile mit sich bringt. Es geht dabei nicht um eine „religiöse“ Motivation, etwa Furcht vor göttlicher Strafe oder Aussicht auf Belohnung. Die eigentliche Motivation für Nächstenliebe ist die Not des anderen Menschen und wurzelt in unserer Fähigkeit, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen, und dann das zu tun, was hilfreich ist, was also die Not lindert.

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