• Erzbischof em. Lionginas Virbalas SJ © SJ-Bild/privat
  • Erzbischof em. Lionginas Virbalas SJ © SJ-Bild/Vytautas Sadauskas
  • Erzbischof em. Lionginas Virbalas SJ © SJ-Bild/privat
1 / 3

Erzbischof Virbalas SJ: "Niemand kann sich nirgendwo sicher fühlen"

„Was derzeit in der Ukraine geschieht, ist eine Kollision zweier Mentalitäten“, so bewertet der emeritierte litauische Erzbischof Lionginas Virbalas SJ die Ereignisse in der Ukraine. Mit Nachdruck ruft er dazu auf, dem Bösen entgegenzutreten, aber nicht dem Zorn nachzugeben.

„Nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine feierte ich den Gottesdienst auf Russisch in der Jesuitenkirche St. Kasimir in Vilnius. Seit 30 Jahren kommt hier die russischsprachige Gemeinde, unabhängig von der Nationalität, jeden Sonntag zusammen. Wir beteten für den Frieden in der Ukraine und für eine möglichst schnelle Beendigung des Krieges Russlands gegen sein unabhängiges Nachbarland – die Ukraine.

Ich verfolge die Berichte aus der Ukraine und sehe Videos von ukrainischen Frauen, die russischen Soldaten auf Russisch einfach ins Gesicht schreien: ‚Geht von hier aus nach Hause!‘ Oder wie die Bevölkerung in den bereits besetzten Gebieten mit den ukrainischen Flaggen ihnen zurufen: ‚Besatzer‘. Es kann sein, dass die Muttersprache dieser Frauen und anderer Personen Russisch ist. Es gibt viele solche Menschen in der Ukraine, aber sie betrachten die Ukraine als ihre Heimat und leisten den Angreifern mit aller Kraft Widerstand. Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen, die dieselbe Sprache sprechen, sich als Bürger verschiedener Staaten empfinden.

Was derzeit in der Ukraine geschieht, ist keine Beziehungsklärung zwischen zwei Völkern, sondern eine Kollision zweier Mentalitäten, zweier Sichtweisen auf die Welt und auf die Zielsetzung. Auf einer Seite eine demokratische Welt, in der ein Mensch als Mensch betrachtet wird, und auf der anderen Seite eine andere Welt, in der nur die Größe des Imperiums zählt und in der ein Bürger mit einer gegenteiligen Meinung sich schnell im Gefängnis wiederfindet (auf Grund einer erfundenen Anklage) oder getötet wird. Ich kenne dieses System sehr gut – 30 Jahre lang habe ich es erlebt. Damals richtete sich die Gewaltmaschinerie gegen die Kirche und gegen jeden Ausdruck von Nationalismus oder jede Infragestellung des kommunistischen Systems. Im Westen haben wahrscheinlich nur wenige die tatsächliche Situation hier erkannt, weil ihnen unverschämte Lügen direkt ins Gesicht erzählt wurden. Dies hat es für uns nicht einfacher gemacht. Meine eigene Familie litt, wie viele andere, unter Repressionen, und ich selbst wurde mehrmals vom sowjetischen Geheimdienst KGB verhört und bedroht, weil ich ins Priesterseminar gehen wollte. Heute weist dieselbe imperiale Denkweise auf andere Feinde hin, was aber an ihrem Wesen nichts ändert.

Lassen wir uns nicht täuschen – es hat der Krieg mit all seinen Schrecken begonnen, und falls wir nicht eindeutig benennen, wer der Aggressor und wer das Opfer ist und falls wir die in Gang gesetzte Höllenmaschinerie nicht aufhalten, wer weiß, was noch alles passieren könnte.

Die Parallelen zwischen der Aggressionspolitik Adolf Hitlers und der von Wladimir Putin sind erschreckend. Sobald sie an der Macht waren, verwandelten sie diese in eine Diktatur, schürten Ressentiments über vergangene Niederlagen (Erster Weltkrieg und Zusammenbruch der Sowjetunion), führten eine umfassende Modernisierung und Entwicklung des Militärs durch, machten ihre Partei zur einzigen politischen Kraft, gründeten ideologiegestützte Jugendorganisationen und versuchten, verlorene Gebiete zurückzugewinnen und neue zu erobern. Natürlich handelt es sich dabei um verschiedene Epochen und nicht alles wiederholt sich, aber sollten wir nicht aus der Geschichte lernen? Erst nach einiger Zeit erkannte die Welt, dass es nicht nur naiv, sondern auch verbrecherisch war zu glauben, dass der Anschluss Österreichs oder die Besetzung des Sudetenlandes das einzige Ziel sei, dass der Frieden erreicht würde und der Rest Europas in Frieden leben könnte, wenn man sich damit abfindet. Aber es geschah genau das Gegenteil – es wurde zum Ansporn für noch größere raubgierige Ziele, die unvorstellbares Leid und Zerstörung über die ganze Welt, einschließlich Deutschland, brachten.

Die Ukraine ist ein freies und unabhängiges Land, das selbst entscheidet, wie es sein Leben und mit wem es seine Zukunft gestalten will. Dürfen wir Länder in solche einteilen, deren Bürger frei über ihr eigenes Schicksal entscheiden können, und in solche, die sich den imperialen Ambitionen ihrer Nachbarn unterwerfen müssen? Wäre dies nicht eine offensichtliche Heuchelei? Wird die wahre Situation nicht an der Entschlossenheit vieler Ukrainer ersichtlich, die Freiheit ihrer Heimat um jeden Preis zu verteidigen, und an der Tatsache, dass bereits Millionen von Flüchtlingen „mit den Füßen abstimmen“, indem sie vor den Schrecken des Krieges nicht nach Russland, sondern in den Westen fliehen?

Niemand soll denken, dass die Opferung der Ukraine, das Massaker an Menschen und die Zerstörung der Städte als Preis für den Frieden gezahlt wird. Nein, dies würde den Aggressor zu weiteren Schritten beschwichtigen. Und wer kann schon sagen, wo die Grenzen seiner Ambitionen liegen? Solange Krieg als Lösung für politische Fragen gewählt wird, die Grundregeln des Völkerrechts gebrochen werden, das Nachbarland heimtückisch angegriffen wird und mit Atomwaffen gedroht wird, kann sich niemand und nirgendwo sicher fühlen.

Wir müssen dem Bösen entgegentreten, dürfen aber nicht dem Zorn nachgeben. Sinnvoll sind in diesem Zusammenhang die Worte von Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk von Kiew-Halytsch: ‚Wir sehen, dass letztlich nicht der Hass, sondern die Liebe siegen wird. Die Liebe gebiert Helden und der Hass gebiert Verbrecher. Deshalb rufe ich uns alle auf: Lernen wir in dieser tragischen Zeit zu lieben. Lassen wir uns nicht vom Hass ersticken. Gebrauchen wir nicht die Sprache und die Worte des Hasses. Eine alte Weisheit besagt, dass derjenige, der seinen Feind hasst, ist ihm schon erlegen. Wir werden mit der Kraft der Liebe zu unserem Land, zu Gott und zum Nächsten siegen.‘

Beten wir unaufhörlich für den Frieden, für die Menschen in der Ukraine und in Russland.

Lionginas Virbalas SJ

Autor:

Lionginas Virbalas SJ trat 1989 in die Gesellschaft Jesu ein und wurde 1991 zum Priester geweiht. Er diente als Rektor der St.-Franzis-Xaver-Kirche in Kaunas und St.-Kasimir-Kirche in Vilnius. Von 2010 bis 2013 war er Leiter des Päpstlichen Russischen Kollegs in Rom. Im Jahr 2013 wurde er zum Bischof geweiht und zum Bischof von Panevėžys ernannt, seit 2015 ist er Erzbischof von Kaunas, seit 2019 emiritierter Erzbischof. Anschließend koordinierte er Projekte und Aktivitäten zur Entwicklung des Wallfahrtsortes der Jungfrau Maria in Šiluva. Seit Januar 2023 ist er Delegat für die litauischsprachige Ausländerseelsorge bei der Litauischen Bischofskonferenz.

Partner

Spenden

Das Magazin „Jesuiten“ erscheint mit Ausgaben für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Bitte wählen Sie Ihre Region aus:

×
- ×