"Die Menschen standen im Pyjama vor uns."

Ein Anruf beim Jesuiten Gerald Baumgartner, der in Homs (Syrien) die Nothilfe für Erdbebenopfer koordiniert

Wie haben Sie das Erdbeben erlebt?

Ich bin davon nachts aufgewacht, die Erde bebte etwa zwei bis drei Minuten, das fühlte sich schon bedrohlich an. Wir liefen dann alle auf die Straße, so wie die anderen Menschen in Homs auch. Hier ist aber nichts zerstört. Dennoch trauten sich die Menschen nicht mehr in ihre Häuser zurück, aus Furcht, es könnte doch noch stärker beben. Die meisten Menschen übernachteten bei Minusgraden draußen. Dann kam am nächsten Tag starker Regen, es herrschte eine Totenstille überall, das war schon eine apokalyptische Situation.

Wann fingen Sie mit Ihren Hilfen an?

Wir hatten rasch erfahren, dass das Epizentrum im Norden des Landes lag, etwa 200 Kilometer von uns entfernt, und wie stark die Schäden in Syrien waren. Unser erster Impuls war es, sofort nach Aleppo zu fahren und dort mitzuhelfen bei den Sucharbeiten. Aber die Idee, dass wir da hinfahren und einfach anfangen zu graben, war dann doch etwas naiv und auch voreilig, und ich bin froh, dass ich unsere Jugendleiter zurückhalten konnte. Schließlich wurden wir hier in Homs viel dringender gebraucht.

Inwiefern?

Schon am zweiten Tag nach dem Erdbeben erhielten wir einen Anruf, dass zwei aus Aleppo geflüchtete Familien das Nötigste brauchen: Decken, Matratzen, Brot, das haben wir dann mit unserem Kleinbus gebracht. Von da an hörte es nicht mehr auf: es kamen immer mehr Menschen zu unserem Haus, die aus der Erdbebenregion geflohen waren, ohne Ausweise, ohne Geld, ohne warme Kleidung. Die standen zum Teil im Pyjama vor uns. Da war uns klar: Da kommt etwas Riesiges auf uns zu!

Was bedeutete das für Sie?

Meine Oberen waren nicht im Haus, daher beschloss ich, dass wir für zwanzig Menschen kochen. Am nächsten Tag waren es 50, am dritten Tag 150, und heute (16. Februar) waren 800 Menschen da. Wir kochen in der kleinen Teeküche, gegessen wird im Freien, zum Glück hat es in den letzten Tagen wenig geregnet. Und immer noch kommen täglich Menschen aus Aleppo an. Wir schauen nachts, wieviele neu gekommen sind, welche Mengen wir also am nächsten Tag kochen müssen. Darüber hinaus ist unser Kleinbus rund um die Uhr auf der Straße und bringt Hilfsgüter zu den Menschen: Kleidung, Hygieneartikel, Decken, Medikamente. Viele Hilfsgüter, die bei uns abgegeben werden, geben wir auch an andere Organisationen weiter wie das Rote Kreuz oder den Roten Halbmond.

Wie ist die Hilfsbereitschaft der Menschen in Homs?

Riesig! Die Menschen geben alles, was sie haben: am ersten Tag sind wir erstickt in Kleiderbergen. Die Menschen hier haben ja selber nichts nach den Jahren des Kriegs. Trotzdem gibt es eine enorme Solidarität. Das bedeutet aber nicht, dass das nicht auch kippen kann. Wir schauen deshalb, dass wir auch bedürftige Einheimische versorgen. Von den 800 Essen heute gingen 600 an Geflüchtete und 200 an die Menschen, die sie aufnehmen.

Wie schaffen Sie das eigentlich?

50 bis 100 Freiwillige unterstützen uns Tag und Nacht, viele haben Urlaub genommen dafür. Studenten helfen uns, obwohl sie sich auf ihre Prüfungen vorbereiten müssten. Ich selbst habe mich in den letzten 10 Tage nicht niedergesetzt, war jeden Tag von acht Uhr früh bis zwei in der Nacht auf den Beinen, dann sechs Stunden schlafen, dann wieder von vorn.

Verliert man in so einer chaotischen Situation nicht leicht den Überblick?

Das ist eine Herausforderung, aber wir haben bereits nach unserem ersten Spontan-Impuls, in Aleppo graben zu helfen, versucht, unsere Hilfen möglichst strategisch zu organisieren. Wir haben uns mit den anderen christlichen Kirchen in Homs zusammengetan und eine Koordinierungsgruppe gegründet, um gemeinsam und möglichst systematisch Hilfen anzubieten. Unsere Kommunität ist dafür gewissermaßen zur Drehscheibe geworden.

Was bedeutet in so einer Situation systematisch?

Wir haben Assessment Teams zusammengestellt, die die objektiven Bedarfe der Familien ermittelt und Prioritäten zuordnet. Das sind qualifizierte Mitarbeiter mit einer psychosozialen Ausbildung. Unser Ziel ist es, die Nothilfe, also die Versorgung mit Kleidung, Hygieneartikeln, Decken, Medikamenten, ärztlicher Versorgung und auch mit Essen, so rasch als möglich wieder einzustellen. Die Menschen sollen schnell in die Lage versetzt werden, sich selbst zu versorgen und dort kochen, wo sie untergebracht sind. Dafür werden wir sicher noch eine Zeit lang Lebensmittelpakete ausgeben. Danach wollen wir uns ansehen, was die Geflüchteten längerfristig brauchen: Wohnung, Mietunterstützung, Bildung für die Kinder, psychotherapeutische Betreuung.

Das werden Sie weiter koordinieren?

Ja, der JRS hat mich darum gebeten, weil ich bereites die Nothilfe organisiert habe. Ich werde daher meine Aufgaben in der Jugendarbeit abgeben, die Nothilfe solange wie erforderlich weiterführen, und dann die zweite Phase unserer Hilfen entwickeln für die Menschen, die länger in Homs werden bleiben müssen.

Sie rechnen damit, dass die Geflüchteten nicht so bald zurückkehren können?

Ja, viele werden womöglich sogar für Jahre in Homs bleiben. Entweder weil ihre Häuser zerstört sind, oder weil unklar ist, ob sie noch bewohnbar sind. In Aleppo sind derzeit Teams mit Ingenieuren unterwegs, die Haus für Haus begutachten, und entscheiden, in welche die Menschen wieder einziehen können. Solange das nicht geklärt ist, werden die Geflüchteten wohl hier bleiben.

Wie geht es Ihnen bei all dem?

Die letzten Tage waren sehr kraftzehrend für alle im Team, und wir müssen achtsam bleiben, dass wir den Helfern auch Ruhetage verordnen. Aber es ist gleichzeitig unglaublich tröstlich und motivierend zu sehen, wie sich die Menschen engagieren. Ein Beispiel nur: die 50 Frauen einer Gebetsgruppe haben wie jedes Jahr zu Valentin Geld für eine Feier gesammelt, die auf Arabisch Fest der Liebe heißt. Es kamen 200.000 Lira zusammen, keine 30 Euro. Dieses Geld haben sie uns gegeben: dieses Jahr wollen sie das Fest der Liebe auf diese Weise feiern. Das gibt Kraft.

Hier können Sie für die Menschen in Syrien spenden.

Interview: Gerd Henghuber

Lesen Sie mehr über die Arbeit der Jesuiten in Homs.

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