Ein mystisches Erlebnis hat Christian Rutishauser von der Zufälligkeit und Sinnlosigkeit des Lebens erlöst. Im Jesuitenorden hat er einen Platz in der Kirche gefunden. Mit fremdem Blick schaut der Judaist auf die Kirche und sieht ihre Zukunft in der Mystik. Eva Meienberg von Kath.ch sprach mit ihm in München.
Es ist heiss in München. Im nahe gelegenen Englischen Garten tummeln sich die Menschen unter grossen Bäumen und an kühlen Bächen. Nichtsdestotrotz zündet Christian Rutishauser in seinem Büro im Universitätsviertel eine Bienenwachskerze an, bevor unser Gespräch beginnt. Christian Rutishauser ist Jesuit und Priester. Diese Reihenfolge ist ihm wichtig. Ohne Jesuit zu sein, wäre er nicht Priester geworden. «Als Jesuit kann ich in der Kirche arbeiten», sagt Christian Rutishauser.
Jesuitische Bildung mit spirituellem Profil
Wir sind existentiell engagiert, intellektuell und spirituell», sagt er über seinen Orden. Er sagt es schnell und sicher nicht zum ersten Mal. Denn von 2012 bis 2021 hat er die Schweizer Jesuiten als Provinzial geleitet und nach aussen vertreten. Seit einem Jahr ist Christian Rutishauser Delegat für Schulen und Hochschulen in München für die neugegründete Zentraleuropäische Provinz. Hier kümmert der Theologe und Judaist sich um Bildungsprojekte mit spirituellem Profil. «Wir wollen die Schülerinnen und Schüler zu intelligenten, kritischen Menschen erziehen und die Frage nach Gott in ihnen wachhalten. Darum setzen wir früh mit Persönlichkeitsbildung an.» Mit «wir» meint er Lehrpersonen, Präsidentinnen, Schulleitungen und Rektoren von jesuitischen Mittelschulen und Fakultäten.
Elternhaus, Kirche und Schule
«Für mich ist in der Kantonsschule eine Welt aufgegangen», erzählt Christian Rutishauser. Als eines von vier Kindern wuchs er in St. Gallen im Stadtteil Heiligkreuz auf. Seine Eltern kamen aus der Arbeiterschicht. Literatur, Theater, Musik habe er erst in der Kantonsschule St. Gallen kennengelernt. Religiös geprägt haben ihn die Kapuziner der Wallfahrtskirche Heiligkreuz. Die Kirche sei nicht nur geografisch, sondern auch ideell näher bei seinem Elternhaus gelegen als die eigentliche Pfarrkirche mit ihrem konservativen Pfarrer, sagt er. Dennoch habe er das Gymnasium nicht bei den Kapuzinern in Appenzell besuchen wollen. Auch die Benediktiner in der Stiftsschule Einsiedeln, mit den langen Gängen, hätten ihn damals abgeschreckt.
«Ich habe Kirche als einen Ort kennen gelernt, an dem man versucht, den Menschen gerecht zu werden», sagt Christian Rutishauser. Darum sei sein religiöses Suchen neben der Sinnsuche immer auch eine Suche nach Gerechtigkeit gewesen. Als Jugendlicher sei er religiös suchend gewesen. Er habe verschiedene religiöse Gemeinschaften regelrecht abgeklappert: die Schönstadt- und die Fokolar-Bewegung, die Charismatische Erneuerung. Aber keine habe wirklich gepasst.
Mystisches Erlebnis
«Damals war für mich nichts selbstverständlich, alles hätte auch anders sein können», sagt Christian Rutishauser, «das löste Anfälle von Sinnlosigkeit aus, die mir ein Stück meiner Kindheit geraubt haben».
Mit 16 Jahren hatte Christian Rutishauser ein mystisches Erlebnis. Es habe mit Bruder Klaus und dem Ranft zu tun. Mehr will er über das Erlebnis nicht sagen. Das Erlebnis begründete in ihm schliesslich den Wunsch Theologie zu studieren. Mystik war nicht nur ein Schlüssel für das eigene Leben. Für den Jesuiten ist sie die Rettung für die Kirche. «Die Erneuerung der Kirche kommt aus der Mystik», sagt Christian Rutishauser und zitiert den deutschen Theologen Karl Rahner: «Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein.»
Mystik als Rettung für die Kirche
Christian Rutishauser erklärt es folgendermassen: In der Mystik gehe man zur Quelle zurück. Die horizontale Dimension von Religion, die Gemeinschaft, religiöse Regeln verlören in einer individualisierten Gesellschaft an Bedeutung. Traditionen lösten sich auf. Die Zukunft des Christentums liege in der vertikalen Dimension, in der Arbeit an der eigenen Innerlichkeit, die mit Meditation, Reflexion und Gebet einher gingen. «Eine unmittelbare Verwurzelung des Einzelnen in Gott ist die Grundlage, um auch das Gemeinschaftliche wieder neu und sinnstiftend zu formen», sagt Christian Rutishauser.
Als Theologiestudent begann er 1985 in Freiburg im Üechtland sein Studium. «Am ersten Tag habe ich gemerkt, dass Jesus kein Christ war. Weder konnte Jesus an den dreieinigen Gott glauben, noch an die Kirche.» Jesus habe ihn aus dem Christentum herausgeführt hin zur jüdischen Religion, sagt Christian Rutishauser.Der akademischen Welt habe er sich nicht zugehörig gefühlt, ihm fehlten die Vorbilder aus dem eigenen Umfeld. «Aber im Studium habe ich mich aufgehoben gefühlt», sagt Christian Rutishauser. Nur der Blick in die Zukunft habe ihm Sorge bereitet.
Priester ja, Pfarrer nein
Denn ein Leben als Priester in einer Pfarrei konnte er sich nicht vorstellen. Nach drei Jahren brach der Theologiestudent sein Studium ab. Nun musste er sich der Militärdienstpflicht stellen, die er bis dahin hinausgeschoben hatte. Da er den Dienst mit Waffe verweigerte, wollte ihn das Gericht zum psychiatrischen Fall und damit für untauglich erklären, was Christian Rutishauser ablehnte. Der Kompromiss war der Dienst als Spitalsoldat – ohne Waffe.
In dieser Zeit las Christian Rutishauser ein Buch über Ignatius von Loyola. «Das war einer der seltenen Momente im Leben, in denen ich genau wusste, was ich machen muss», sagt Christian Rutishauser. Er meldete sich in Bad Schönbrunn bei den Jesuiten zu den grossen Exerzitien an. Die spirituelle Schulung, die Entscheidungsfindung und die biografische Arbeit während der Exerzitien haben ihm geholfen, sich für die Wiederaufnahme seines Studiums zu entscheiden.
Jüdisch und jesuitisch
Nach weiteren Jahren des Studiums in Freiburg, Lyon und einem Aufenthalt in Israel in einer Bibelschule beendete Christian Rutishauser 1991 sein Studium mit dem Lizentiat. Er absolvierte das Pastoraljahr im Bistum St. Gallen im Wissen, dass er nicht als Priester in einer Pfarrei arbeiten wollte. 1992 trat Christian Rutishauser in Innsbruck das Noviziat bei den Jesuiten an. «Die Jesuiten sind die Juden innerhalb der Kirche», sagt Christian Rutishauser. Das Lernen stehe bei ihnen ebenso im Zentrum wie in der jüdischen Tradition. Sie teilten den freien und kritischen Weltzugang, seien mitbrüderlich trotz der herrschenden Hierarchie. Die Jesuiten seien wie die Rabbiner: Städter und weltweit vernetzt.
Ab 1994 arbeitete er als Studentenseelsorger im Akademikerhaus in Bern, das er schliesslich auch leitete. Seine Passion für die jüdische Kultur und Religion habe er mit den Studierenden auf zahlreichen Reisen nach Israel geteilt. Die Idee zu konvertieren sei ihm schon in den Sinn gekommen, aber realisiert habe er sie nicht.
Aufgeklärte Spiritualität ohne Folklore
1998 weihte Kardinal Kurt Koch, der damals Bischof von Basel war, Christian Rutishauser zum Priester. Rund 1000 Gäste kamen an die Feier. Auch solche, die sonst keine Kirche aufsuchten. Der Universitätschor brachte im Gottesdienst eine Messe zur Uraufführung, anstelle der Vesper wurde eine Toccata gespielt, Literatur und Musik fanden in einer Collage Eingang in den Gottesdienst.
Er brauche keine Folklore für das Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern Liturgie in einem zeitgemässen, ästhetischen Ausdruck. Der Gottesdienst müsse von einer aufgeklärten Spiritualität getragen sein, sagt der Jesuit. Glaube ist für Christian Rutishauser ein existentieller Akt des Vertrauens, der Entscheid, auf Etwas zu setzen, das Leben zu riskieren. Nach der Priesterweihe begann Christian Rutishauser sein Doktorat an der Universität Luzern mit einem Forschungsstudium der Jüdischen Philosophie und des Rabbinischen Judentums an der Hebräischen Universität und am Institut Ratisbonne der Brüder und Schwestern von Sion in Jerusalem.
Lernen vom Judentum
Nach einem weiteren Forschungsaufenthalt an der Yeshiva University in New York reichte er 2001 seine Dissertation ein. Seine Forschung über die moderne Orthodoxie im Judentum habe ihm ermöglicht, das orthodoxe Judentum von innen, aus seinem eigenen Denken heraus zu verstehen. «Ich habe dadurch zugleich viel über das Paradigma der Säkularisierung gelernt, dem sich alle monotheistischen Religionen stellen müssen», sagt Christian Rutishauser.
Das Judentum sei wie ein Seismograph für gesellschaftliche Prozesse, weil die Jüdinnen und Juden als Minderheit diesen früher und extremer ausgeliefert seien. Während sich die römisch-katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit dem Zerfall ihres Milieus auseinandersetzen muss, seien jüdische Gemeinden bereits im 19. Jahrhundert damit konfrontiert gewesen. Christian Rutishauser hat keine Angst, dass die katholische Kirche untergehen wird. «Was jetzt zusammenbricht, ist die Kirche, die wir in der Moderne aufgebaut haben als Reaktion auf die Aufklärung.» Diese im Grund antimoderne Kirche müsse zerfallen, weil die ganze Gesellschaft weitergeht. Die Kirche werde auch diesen sozialen Umbruch überleben.
Christlich-jüdische Beziehungen
Seit 2004 ist Christian Rutishauser Mitglied der Jüdisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission der Schweizer Bischofskonferenz und des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes. Da hat er sich für den Tag des Judentums eingesetzt, der in der katholischen Kirche 2011 eingeführt wurde. Und für die Wiedereinführung des Festes der Beschneidung Jesu am 1. Januar kämpft er seit langem. Seit 2014 gehört er auch derselben Kommission der Deutschen Bischofskonferenz an und arbeitet als ständiger Berater des Papstes für die religiösen Beziehungen zum Judentum. «Für mich ist es eine Gewissensfrage und eine Konsequenz aus meinen Studien, dass ich mich für eine Neuformulierung der katholischen Theologie in Bezug auf das Judentum einsetze», sagt der Judaist. So geschehen in einem Artikel, den er 2018 in der Neuen Zürcher Zeitung publizierte, in dem er die Äusserungen des emeritierten Papst Benedikt XVI. zur jüdisch-katholischen Beziehung kritisierte.
Er versuche ein Intellektueller zu sein, der das Akademische gesellschaftsrelevant weitergebe. Dies sei typisch jesuitisch, sagt Rutishauser. Für typisch jesuitisch hielten viele Menschen Verschlagenheit oder Arroganz. Mit diesen Vorurteilen kann Christian Rutishauser umgehen. Mühe hat er mit Menschen, die ihm nicht zuhören wollten, weil Argumente eines Jesuiten zu kompliziert seien.
Lernen im Lassalle-Haus
Von 2001 bis 2012 leitete Christian Rutishauser als Bildungsleiter das Lassalle-Haus in Bad Schönbrunn. In den elf Jahren entwickelte er verschiedene Bildungsprojekte wie zum Beispiel den Lehrgang zur christlichen Spiritualität, leitete ignatianische Exerzitien, Kontemplation, geistliche Begleitung und organisierte interreligiöse Tagungen. Auch jährliche Studienreisen in die Länder der Bibel gehörten dazu.
2011 machte sich Christian Rutishauser erneut auf den Weg nach Israel. Diesmal zu Fuss. Zu viert pilgerten sie während sieben Monaten nach Jerusalem. Auf dieser Reise habe sich sein bisheriges Leben zu einem Ganzen verdichtet, sagt Christian Rutishauser. Das will er aber nicht als Selbstfindungs-Trip verstanden wissen, sondern als Beitrag zu einem vertieften Christsein, zum interreligiösen Dialog und zur Friedenspolitik. «Wer so weit pilgert und ausgesetzt ist, wird verwundbar und weiss sich gewaltlos. Er entwickelt eine Solidarität mit allen Geschöpfen. Er kann die Mitmenschen nicht mehr nur als Feinde sehen», sagt Christian Rutishauser.
Unterwegs ankommen
Als die Gruppe in der Türkei unterwegs war, erreichte Christian Rutishauser ein Anruf des Generaloberen der Jesuiten. Er solle das Amt des Provinzials der Schweizer Jesuiten übernehmen, kam die Weisung. Wie es nach der Pilgerreise für ihn weitergehen werde, war nun klar. Unklar war die Weiterreise durch Syrien, denn der Syrienkrieg hatte inzwischen begonnen.In seinem Videotagebuch im Dokumentarfilm zur Pilgerreise erzählt Christan Rutishauser von einer Begegnung in der syrischen Orontesebene. Ein junger Mann in Armeekleidung versperrte ihm den Weg und richtete seine Pistole auf ihn. «Mich durchstösst eine panische Angst», sagt Christian Rutishauser mit sonnengegerbter Haut und ausgetrockneten Lippen in die Kamera. Die Zeit, bis der Mann seine Waffe wieder in die Tasche zurückgesteckt habe, sei ihm sehr lange vorgekommen.
Die Situation entschärfte sich, als ein Mann sich als Geheimpolizist vorstellte und anerbot, die Pilgergruppe durch das gefährliche Gebiet zu begleiten. «Christsein bedeutet, in die Welt hineinzugehen», sagt Christian Rutishauser, «mit Gott im Rücken. Wie beim Pilgern, so begleitet mich Gott durch das ganze Leben.» Nach sieben Monaten kam die Pilgergruppe in Jerusalem an.Nur langsam wird es kühler in München. Für das Porträt gehen wir in den Garten der Hochschule für Philosophie. Dort hat es ein kleines Schwimmbad für die hörbeeinträchtigten Kinder aus der Ukraine, die vor dem Krieg geflüchtet sind. Sie haben als Flüchtlinge in der Jesuitenkommunität Aufnahme gefunden. Flüchtlinge seien gezwungenermassen unterwegs, als Pilger sei man jedoch freiwillig auf dem Weg. «Wohin das Leben den Menschen verschlägt, glücklich sind die, denen es gelingt, ihr Leben in eine Pilgerschaft zu verwandeln.»
Dieses Interview mit P. Christian Rutishauser führte Eva Meienberg von Kath.ch