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"Bildung kann eine Quelle der Hoffnung für marginalisierte Jugendliche sein"

Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Studierenden des Jesuit Worldwide Learning auf über 7.500 junge Menschen weltweit. Im Interview blickt der geschäftsführende Präsident P. Peter Balleis SJ auf die rasante Entwicklung und die Ziele für 2023.

Pater Balleis, welche Idee steht hinter Jesuit Worldwide Learning (JWL)?

P. Peter Balleis SJ: Jesuit Worldwide Learning ermöglicht Jugendlichen, die in marginalisierten Gemeinschaften leben, eine universitäre Bildung. Dazu hat JWL ein Blended-Learning-Modell in Zusammenarbeit mit akkreditierenden Universitäten entwickelt. Durch gemeinsames globales Lernen möchte JWL zu einer sozial-ökologischen Transformation beitragen.

Sie waren mehr als zehn Jahre in Afrika, Asien, Lateinamerika und im Mittleren Osten tätig. Wie hat sich JWL in diesem Zeitraum entwickelt?

Ich war vor zehn Jahren in der internationalen Flüchtlingsarbeit tätig. Damals entstand die Initiative, die zu Jesuit Worldwide Learning als Werk der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten führte. Mit der Idee, Flüchtlingen online Universitätsbildung zu ermöglichen, waren wir damals Vorreiter im Kakuma Camp in Kenia und Dzaleka Camp in Malawi. Inzwischen ist aus der Idee ein innovatives Modell entstanden. Seit 2016 ist die Studentenzahl von knapp 200 auf über 7.000 angestiegen. Die Zahl der Partner-Universitäten und Partner vor Ort wächst ebenfalls. Wir stehen vor vielen Herausforderungen in der Welt. Bildung, wie JWL sie ermöglicht, kann eine Hilfe und vor allem eine Quelle der Hoffnung für marginalisierte Jugendliche sein.

Im Jahr 2020 hat JWL begonnen mit indigenen Bevölkerungen im Amazonas zu arbeiten. Mit welchen Angeboten sind Sie vor Ort?

Von der St. Ignatius Mission in Lethem in Guyana haben wir die Anfrage eines Jesuiten erhalten, der dort an der Grenze zu Brasilien mit dem Wapashani Volk arbeitet. Es folgte ein Besuch und die Einrichtung eines Lernzentrums. Die Jugendlichen lernen bereits Englisch, aber nicht ausreichend, um in der einzigen Universität im fernen Georgetown zu studieren. Zudem fehlt den Familien das Geld, und die jungen Leute ziehen es vor, in der Gemeinschaft der Wapashani zu leben statt an der Universität in der großen Stadt verloren zu gehen. Es gibt zwei Programme, die den jungen Leuten helfen, voranzukommen. Mit dem Global English Language Programm von JWL bringen sie ihre Sprachkenntnisse auf das erforderliche Niveau. Da es zudem keine ausgebildeten Lehrer gibt und Sekundarschulabgänger erstmal unausgebildet unterrichten, bevor sie einen Platz in der Lehrerausbildung bekommen, ist der 6-monatige Lehrerkurs ,Learning Facilitator‘ sehr gefragt und eine große Hilfe für die Schulen. Dieser Kurs wird von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt akkreditiert. In drei Jahren haben schon fast 50 junge Menschen mit der KU studiert. Ein junger Wapashani studiert schon im dritten und letzten Jahr den Bachelor in Nachhaltiger Entwicklung.

Wie erfahren junge Leute in marginalisierten Gemeinschaften vom JWL-Programm?

Die Partner vor Ort sind entscheidend für das Modell von JWL, sei es im Falle von Guyana die Jesuitenpfarrei, der Jesuit Refugee Service JRS im Flüchtlingskontext, Fe y Alegria in Ecuador oder Institutionen von Jesuitenprovinzen, die mit den marginalisierten Jugendlichen arbeiten und bei den Armen sind. Das Community Learning Center – das Lernzentrum der Gemeinschaft – ist der Ort, wo Jugendliche von JWL erfahren, wo sie Internet, Computer und Begleitung durch Facilitators finden. Jugendliche hören von dem Programm und bewerben sich über das Center. Die gemeinsame Lerngruppe trägt zum Erfolg bei und verändert auch das Leben im Dorf oder Flüchtlingslager.

Warum hat JWL ein Vorbereitungsprogramm in Naturwissenschaft, Technologie und Mathematik, das sogenannte Pre-STEM Programm im Herbst 2022 begonnen? 

JWL bietet seit über zehn Jahren ein sehr erfolgreiches einjähriges humanistisches Grundstudium – Liberal Studies – an. Das Grundstudium legt das akademische Fundament für das folgende Bachelorstudium, ermutigt junge Leute zu einem offenen und kritischen Denken und inspiriert sie, sich als verantwortliche Personen – Servant Leaders – in ihren Gemeinschaften zu sehen. Aber wir stellen fest, dass die Armen wegen schlechter schulischer Voraussetzungen trotz ihres Talentes nicht den Sprung in die Naturwissenschaften machen. Unser Ziel ist es, einen Bachelor in Naturwissenschaften anzubieten. Der erste Schritt dazu ist, das humanistische Grundstudium mit Kursen in Algebra, Physik, Statistik und Astronomie auf die Naturwissenschaften auszurichten. Die jungen Leute können ihr Talent, Interesse und Leidenschaft entdecken und anschließend den Bachelor beginnen.

Welche Rolle spielt die Ignatianische Pädagogik in JWL-Programmen?

Die große Mehrheit der JWL-Studentinnen und -Studenten sind nicht christlich, sehr viele sind Muslime, Hindus, Buddhisten, Yeziden. Alle wissen, dass JWL eine christlich inspirierte und von den Jesuiten getragene Organisation ist. Das wissen auch die Taliban in Afghanistan. Aber es spielt keine Rolle, denn wir unterrichten nicht christliche Religion. Die ignatianische Pädagogik ist kein Instrument der Glaubensverkündigung, sondern eine Pädagogik inspiriert vom christlichen Menschenbild und den Erfahrungen der geistlichen Übungen. Die Online-Kurse sind nach den Lern- und Lehrschritten der ignatianischen Pädagogik aufgebaut, mit Blick auf den Kontext, die Analyse, die Reflexion, die zur Aktion und zur Auswertung führt. Die Erfahrungen verschiedener Formen des Online-Lernens und -Unterrichtens haben gezeigt, dass wichtige Elemente der ignatianischen Pädagogik im Aufbau der Kurse und der begleitenden Vermittlung entscheidend für den Erfolg sind. Es ist nicht die Technologie, sondern die Pädagogik.

In vielen Regionen ist für Frauen der Zugang zu Bildung schwierig, ja sogar riskant. Was macht JWL, um die Inklusion zu fördern?

Weltweit waren von den 7.662 Studierenden im vergangenen Jahr 54 Prozent weiblich. JWL ist bereits sehr inklusiv. Der Anteil von Frauen liegt in den islamischen Ländern, besonders in Afghanistan, über 60 Prozent, obwohl man gerade hier das Gegenteil erwartet. Das hat damit zu tun, dass JWL in Regionen der Welt Programme anbietet, wo Frauen in der Bildung eher benachteiligt oder ausgeschlossen sind. Die JWL-Technologie mit On- und Offline-Lernen ermöglicht es den jungen Frauen in Afghanistan, sich in Home Study Groups zu organisieren. Sie haben alles auf dem Laptop und brauchen nur das Internet, um die Hausaufgaben hochzuladen. Technologie hilft, um die Barrieren für Frauen zu durchbrechen. Sie erlaubt das Studium unterhalb des ‚Radars der Regierungskontrollen‘ wie in Myanmar.

In Afrika gibt es dagegen die Herausforderung, dass der Frauenanteil unter 50 Prozent schwindet, je länger und akademischer das Programm ist. Das hat offenbar mit der Kultur in afrikanischen Ländern wie Südsudan zu tun, wo weniger Mädchen die Sekundarschule abschließen und sich bei JWL bewerben. In den Flüchtlingslagern Kakuma in Kenia und Dzaleka in Malawi bietet unser Team vor Ort spezielle Englisch-Programme für die Mädchen an, um sie zum Studium mit JWL zu ermutigen.

An was werden Sie sich rückblickend im Jahr 2022 erinnern?

An den Besuch in Ecuador, konkret im Dorf Dicaro der Waorani Nation im Yasuni National Park im Amazonasgebiet. Es ist das Gebiet mit der höchsten Biodiversität des Amazonas - und vermutlich sogar weltweit. Zum Volk der Waorani gehören 600 Mitglieder. Aber ihre Bedeutung ist um ein Vielfaches größer. Sie sind die Hüter dieses Gebietes. Zu unserer Überraschung haben uns Experten des Forschungszentrums der Katholischen Universität Ecuador gesagt, dass es sinnvoll ist, dass die jungen Waorani English lernen, damit sie auf internationaler Ebene sprechen können und gehört werden. Das JWL Englisch Programm hat bereits angefangen. JWL ist zu einem strategischen Partner des neuen Progama Universitario Amazonico (PUAM) geworden, welches das JWL-Lernmodell aus Blended Learning und ignatianischer Pädagogik anwenden will, um den Auftrag der Amazonas-Synode von 2019 zu erfüllen und Universitätsbildung für die indigenen Völker im Amazonas anzubieten.

JWL hat sich der sozial-ökologischen Transformation verpflichtet. Was heißt das konkret? 

Das Engagement im Amazonas und die Zusammenarbeit mit PUAM und den indigenen Völkern im Amazonas ist ein Beitrag von JWL zu einer sozial-ökologischen Transformation, die über den Amazonas hinaus wirkt. Der Bachelor in Nachhaltiger Entwicklung ist das erste Bachelor-Programm von JWL, das in Zusammenarbeit mit der Xavier University im indischen Bhubaneswar (XIMU) erstellt wurde. Es sind schon 200 Studenten eingeschrieben. Die ersten werden Ende 2023 ihren Bachelor erhalten. Die Ausbildung von jungen Leuten in den abgelegenen Regionen der Welt, in den Regenwäldern und Gebieten, wo der Klimawandel sich verheerend auswirkt, ist ein Schwerpunkt von JWL. Ein weiteres Programm in Agrarökologie mit Pater Claus Recktenwald in Sambia ist in der Planung.

Welche Ziele haben Sie für 2023?

Die DNA von JWL ist ein Modell zu entwickeln, das skalierbar, übertragbar und nachhaltig ist. Das heißt, dass JWL eine Wachstumsdynamik hat, die auf Nachfrage von Partnern und besonders der JWL-Graduates aufbaut, die mit marginalisierten Gemeinschaften arbeiten. Im Jahr 2023 werde ich Osttimor besuchen, weil es dort einen Bedarf an Englisch in den Schulen gibt. Ein Lehrerausbildungsinstitut von Schwestern arbeitet vor Ort bereits mit unserem Englisch-Programm. Weitere Ziele sind die verstärkte Einbindung von JWL als Werk der Zentraleuropäischen Provinz in die Netzwerke der Gesellschaft Jesu, in strategische Partnerschaften mit den Jesuiten in Südasien und mit dem Amazonas-Programm. Wir wollen JWL als eine globale Allianz vieler Universitäten, Partner und Förderer weiterentwickeln, um mehr jungen Leuten an den Rändern dieser Welt den Zugang zu universitärer Bildung zu ermöglichen.

Interview Céline Fossati

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