"Beitrag zur Glaubwürdigkeit der Kirche"

Bei ihrem Rom-Besuch hat Bundeskanzlerin Merkel nicht nur den Papst getroffen, sondern auch den Jesuiten Hans Zollner, einen Vorreiter für Kinderschutz in der katholischen Kirche. Das alles in einer Woche, die von neuen Missbrauchszahlen geprägt ist. P. Zollner sprach mit dem Domradio über den Besuch von Angela Merkel im Kinderschutzzentrum.

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie das Treffen mit Angela Merkel erlebt?

Hans Zollner SJ (Leiter "Institut für Anthropologie - Interdisziplinäre Studien zu Menschenwürde und Sorge für schutzbedürftige Personen" (IADC)): Die Bundeskanzlerin kam, um sich über die Arbeit zu unterhalten, die das Institut für Anthropologie und Safeguarding leistet. Wir haben uns unterhalten über die Programme, die wir anbieten. Da war sie sehr interessiert, auch an den Aspekten, die uns vor Herausforderungen stellen, vor allem auch sprachliche, interkulturelle und interdisziplinäre Aspekte. Sie hat ihre Wertschätzung für unsere Arbeit ausgedrückt. Insofern, als sie gesagt hat, dass sie glaube, dass ein Institut wie unseres eben zur Glaubwürdigkeit der Kirche einen wichtigen Beitrag leiste.

Und schließlich haben wir auch über die offenen Fragen gesprochen, die es eben gibt. Sowohl was den Umgang mit Betroffenen angeht und die Aufarbeitung als auch die Frage, wie wir als Kirche eine Rechtskultur befördern können, in der Dinge, die eben laufen müssten und die auch durchgeführt werden müssten, tatsächlich auch zu einem Ende kommen - und wie gleiche Maßstäbe angelegt werden. Auch mit Blick darauf, wie mit Bischöfen umgegangen wird, die sich rechtliche Vergehen oder Vernachlässigungen im rechtlichen Bereich zuschulden haben kommen lassen oder wie sie eben auch vernachlässigt haben, was sie eigentlich laut ihrem Auftrag hätten umsetzen müssen.

DOMRADIO.DE: Es gibt ja viele Stellen, die die Kanzlerin hätte in Rom besuchen können, in einer begrenzten Zeit. Wie bewerten Sie das, dass sie ausgerechnet zu Ihnen gekommen ist?

Zollner: Die Kanzlerin hat uns gesagt, und das hat sie dann auch nachher öffentlich gemacht, dass sie uns unterstützen wollte, ihre Wertschätzung ausdrücken wollte für unsere Arbeit und dass sie ein Zeichen setzen wollte. Auch dafür, was sich Politik und Gesellschaft von der Kirche im Blick auf Aufarbeitung und im Blick auf Präventionsarbeit erwarten.

DOMRADIO.DE: Das Ganze in einer Woche, wo schockierende Missbrauchszahlen aus Frankreich kommen. Man spricht von 216.000 Betroffenen seit 1950. Die MHG-Studie in Deutschland hat im Gegensatz dazu 3.766 Fälle dokumentiert. Wie bewerten Sie diese Diskrepanz?

Zollner: Der Schock sitzt tief und das Entsetzen ist spürbar. Ich muss sagen, dass mich das manchmal auch vorsichtig macht, weil oft aus Schock und puren Entsetzen keine weiteren Konsequenzen gezogen werden. Dann bleibt man sozusagen in der Schockstarre oder in der Entrüstung stecken und fragt nicht: Was muss getan werden? Wie müssen Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden? Und was muss man tun, damit die Situation sich heute und für die Zukunft bessert?

Insofern ist festzuhalten, dass jede Person, die missbraucht worden ist, tatsächlich tiefes Leid erfahren hat und auch die Zuwendung braucht, die sie auch einfordern kann und will. Da muss man auch schauen, dass nicht hinter der Monstrosität der Zahlen das Leben von Einzelnen, von ihren Familien, von ihren Freunden, von dem Umfeld, in dem sie aufgewachsen sind, aus dem Blick gerät. Denn das passiert leider, wenn man von zu großen Zahlen hört, dass man dann darüber vergisst, was das für die einzelnen Personen bedeutet.

Das zweite, die Methode, die angewandt wurde bei der französischen Untergruppe, der Kommission, die diesen Bericht erstellt hat, war eine, die von der Weltgesundheitsorganisation oft verwendet wird, um Epidemien zu beschreiben beziehungsweise um an Schätzungen von Zahlen zu kommen, wenn es um Krankheiten geht, von denen man nicht genau wissen kann, wie viele Leute das betrifft. Das ist eine tatsächlich sehr anerkannte wissenschaftliche Methode, die keine exakten Zahlen, sondern eben Schätzungen liefert. Und diese Schätzungen sind durchaus sehr nahe an der Realität anzusiedeln.

In Deutschland hat sich die Studie ja, sowohl was die Angeschuldigten als auch was die Betroffenen angeht, auf jene Fälle bezogen, die gerichtsbekannt sind oder aktenkundig waren. Und in Frankreich ist es auch für den Teil der Angeschuldigten so gemacht worden und deshalb haben wir eine große Diskrepanz zwischen etwa 3.000 Beschuldigten und. 216.000 Betroffenen, was den Missbrauch durch Kleriker angeht und weitere über 100.000 was den Missbrauch durch Laien in der Kirche angeht.

Also da ist eine Diskrepanz, die sich zahlenmäßig statistisch nicht auflösen lässt. Das hat auch der Kommissionspräsident so benannt. Da wurden zwei verschiedene methodologische Ansätze verfolgt, die nicht leicht zu versöhnen sind, sozusagen. Aber sie haben es stehen lassen, weil es eben auch speziell mit Blick auf die Beschuldigten auf jede nachvollziehbare und gerichtskundige Akte gehen muss. Während wir  bei den Betroffenen wissen, dass sehr viele Menschen nicht darüber sprechen wollen und auch manche nicht mehr darüber sprechen können.

DOMRADIO.DE: Missbrauch macht Schlagzeilen. In den Kontext passt es auch, dass das Kinderschutzzentrum, dass Sie bis jetzt an der päpstlichen Universität Gregoriana geleitet haben, aufgewertet wird. Was genau ändert sich da?

Zollner: Wir haben ein akademisches Upgrade bekommen. Wir sind von einem Zentrum zu einem Institut geworden und das ermöglicht es uns, unseren eigenen Lehrkörper aufzubauen. Das hängt jetzt nicht mehr nur an mir, sondern ich bin sehr froh, dass jetzt auch Kollegen und Kolleginnen einsteigen beziehungsweise dann auch tatsächlich eine akademische Karriere, so wie es woanders auch läuft, beginnen können.

Das akademische Upgrade besteht auch darin, dass wir nun unsere eigenen akademischen Grade verleihen können. Das war bisher nur über die Uni möglich. Jetzt haben unsere eigenen Grade, die durch das Institut verliehen werden, nämlich einen Masterstudiengang in Safeguarding und ein Doktorat in Anthropologie, jeweils mit den Schwerpunkten, die solche Arbeiten bezieungsweise Titel mit sich bringen. Das ist ein großer struktureller Fortschritt, weil wir praktisch jetzt wie eine Fakultät funktionieren können und damit auch eine langfristige Verstetigung geschehen ist.

Dann zum Inhaltlichen: Wir haben den Namen Kinderschutz nicht mehr in unserem Titel. Das heißt nicht, dass wir nicht mehr für den Kinderschutz arbeiten. Ja, Kinderschutz bleibt eine Priorität für uns. Aber wir können nach den Entwicklungen der letzten Jahre, speziell der letzten vier Jahre, uns nicht mehr nur auf die Präventionsarbeit mit Blick auf Missbrauch von Kindern und Jugendlichen konzentrieren.

Nachdem wir vor vier Jahren ziemlich genau mit der MeToo-Bewegung konfrontiert worden sind, nachdem der Papst darüber gesprochen hat, dass Ordensfrauen durch Priester missbraucht werden, nachdem wir durch den McCarrick-Fall von Missbrauch von Seminaristen erfahren haben, nachdem wir auch in Deutschland - speziell auch im deutschen Sprachraum - über Missbrauch im spirituellen Bereich bezieungsweise Amtsmissbrauch oder Machtmissbrauch insgesamt gehört haben. Und deshalb mussten wir uns auch über den Kinderschutz hinaus orientieren und haben nun auch eben Begriffe dafür verwendet, die auch den Schutzfaktor stärker in den Mittelpunkt rücken, nämlich Menschenwürde und Sorge für Schutzbefohlene.

DOMRADIO.DE: Kann man das als politisches Zeichen von Seiten des Vatikans deuten, das dem Thema mehr Bedeutung zugemessen wird?

Zollner: Also zunächst: Unser Institut ist eine akademische Veranstaltung. Wir sind ein Universitäts-Institut und das ist eine Entscheidung der Uni gewesen. Aber es ist richtig, dass es natürlich auch in der kirchlichen Rechtsprechung und beim Heiligen Stuhl eine Aufmerksamkeit auf die anderen Themen, die ich gerade genannt habe, gibt, die sich ja auch in einer neuen Kirchenrechtsnorm tatsächlich auch umsetzen haben lassen. Nämlich in der Aufmerksamkeit auf jene Personen, die man als Schutzbefohlene im Deutschen bezeichnen würde.

In Englisch  wären das die "vulnerable persons". Was das genau bedeutet, muss man auch in der Rechtspraxis dann noch sehen. Aber es ist klar, dass wir uns nicht mehr nur auf Kinder und Jugendliche begrenzen können, wenn wir von der Schaffung von sicheren Räumen sprechen.

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