• Wanderer am Weltenrand: Flammarions Holzstich, das spätmittelalterlich aussieht, erschien 1888. Quelle: Wikimedia Commons

Aufgeklärtes Christentum

Wie kann ein aufgeklärtes Christentum aussehen? Mit Hölderlin, Hegel und Beethoven feiern in diesem Jahr gleich drei Erben der Aufklärung ihren 250. Geburtstag. Stefan Kiechle SJ untersucht in seinem Editorial das ambivalente Verhältnis der katholischen Kirche zu dieser Zeit der wissenschaftlichen und geistigen Auf- und Umbrüche. Zwei Strömungen stechen seit der Aufklärung hervor: einerseits ein Bild der Kirche als unveränderbar, ewig und hierarchisch – andererseits ein reformfreudigeres und weltoffeneres Bild.

In diesem Jahr feiert Deutschland gleich drei 250. Geburtstage großer Persönlichkeiten: Johann Christian Friedrich Hölderlin (geb. am 20. März 1770), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (geb. am 27. August 1770) und Ludwig van Beethoven (getauft am 17. Dezember 1770). Alle drei sind Erben der Aufklärung. Auf ganz unterschiedliche Weise hat jeder von ihnen diesen geistigen Aufbruch des 18. Jahrhunderts fortgeführt und umgesetzt. Über das Verhältnis des Christentums – vor allem in seiner katholischen Ausprägung – zur Aufklärung wird in letzter Zeit wieder vermehrt diskutiert, und je nach Bestimmung dieses Verhältnisses resultiert aus ihm Reformfreude oder -verweigerung.

Was ist Aufklärung? Durch das Licht der Vernunft geleitet, geht der Mensch – nach Kants Definitionsversuch – „aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ heraus und bestimmt frei über sein Leben. Hubert Wolf (in seinem neuen Buch „Verdammtes Licht“, siehe die Rezension in diesem Heft) beschreibt die spannungsreiche Geschichte von Katholizismus und Aufklärung. Die Lichtmetapher wird von der Aufklärung – das Französische nennt sie Lumières – kritisch gebraucht, auch und insbesondere gegen unerleuchtete oder unvernünftige Religion, wobei andererseits das Christentum selbst diese Lichtsymbolik verwendet: Christus ist das Licht der Welt, welches, von oben geoffenbart und durch die Kirche vermittelt, die ganze Menschheit mit göttlicher Wahrheit erleuchtet.

In der Kirche streiten seit Jahrhunderten zwei Strömungen um die Interpretation dieses Lichts: Einerseits ein eher zentripetales, neuscholastisch geprägtes Kirchenbild, nach dem die Kirche seit ihrer Gründung durch Christus unveränderbar, ewig, hierarchisch geordnet und niemals reformbedürftig ist; sie wird zentral vom Papst geleitet, mit großer Einheit in der Doktrin und in der Liturgie; sie wendet sich gegen Aufklärung, Liberalismus und Individualismus, auch gegen Demokratie und Religionsfreiheit – gegen die Moderne. Andererseits ein eher zentrifugales Kirchenbild, das Entwicklung und Vielfalt – synchron und diachron – zulässt und das Licht der autonomen Vernunft – in Wissenschaft, Kunst, Gesellschaft, Politik usw. – wertschätzt, mit ihm im Dialog ist und es mit seiner geoffenbarten religiösen Wahrheit zusammenführt. Im ersten Kirchenbild wird das Licht Christi schroff der Dunkelheit rein menschlicher Vernunft gegenübergestellt, im zweiten ergänzen sich zwei von Gott geschaffene Lichtquellen zu einem vielfarbigen Aufleuchten der Wahrheit.

Nun kann aber jeder seriöse Historiker – siehe Hubert Wolf – nachweisen, dass es schon immer Vielfalt und Entwicklung gab, im Christentum mit seinen unterschiedlichen kirchlichen Gestalten und deren sehr bunten Lichtern ebenso wie in der Aufklärung, die komplex und überaus vielfarbig leuchtet – und im Kontakt beider mit reicher gegenseitiger Anregung. „Aufklärung“ gegen Dunkel in der Religion gibt es übrigens auch innerhalb dieser, etwa in der griechischen Antike oder in der biblischen Wende vom Polytheismus zum Monotheismus. Die katholische Kirche hat in den letzten Jahrhunderten Aufklärung und Demokratie bekämpft, bisweilen mit deren eigenen Mitteln, etwa indem sie in nichtkatholischen Staaten für sich selbst Religionsfreiheit reklamierte. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nahm sie in einer fundamentalen Wende aufgeklärtes Gedankengut auf und modernisierte damit sich selbst und ihr Christentum. Heute gibt es freilich in weiten Kreisen einen Rückzug zu einem autoritären, antimodernen und einheits-doktrinalen Kirchenbild – Kirche würde damit freiwillig ins geistige Ghetto gehen, sie wäre nicht mehr anschlussfähig für den Geist der Gegenwart, sie würde sich selbst irrelevant machen und ihren christlichen Auftrag verraten.

Wie sieht ein aufgeklärtes Christentum aus? Kirche wird weniger wichtig, kreist nicht um sich, sorgt sich weniger um ihren personellen oder institutionellen Erhalt. Wichtiger wird das Christentum: Gläubige Frauen und Männer leben ein biblisches Menschenbild: an der Seite der Opfer von Armut, Unrecht und Gewalt, mit einer fundamentalen Gleichheit aller vor Gott und daher vor dem Gesetz, mit Respekt vor individuellen Wegen, barmherzig zu den Schwachen, gewaltlos in Konflikten, die Schöpfung bewahrend – glaubend, hoffend, liebend. In ihrem Miteinander dulden Christinnen und Christen keine Klassen-Ordnung – ein Klerus mit welchem Zugang auch immer versus ein Laienvolk –, keinen Machtmissbrauch, keine Privilegierung; vielleicht müssen sie nochmals ganz neu theologisch durchdenken, welche Ämter und Dienste eine Christengemeinschaft braucht.

Auch lässt aufgeklärtes Christentum Freiheit zu im Denken, im Empfinden und in der Kunst: Hölderlin, Hegel und Beethoven sind in ihrer Zeit wohl nur mit Distanz zur katholischen Kirche vorstellbar – solche Anreger werden im aufgeklärt-vielfältigen Christentum überall ihren Platz und ihren Auftrag finden. Aufgeklärtes Christentum kritisiert rechtspopulistische und fundamentalistische Strömungen jedweder Couleur, zugunsten der Freiheit und des Respekts, der Gerechtigkeit und der Gastfreundschaft, der religiösen Toleranz und – letztlich – des Wirkens des Geistes, der weht, wo er wehen will.

Autor:

Stefan Kiechle SJ

Pater Stefan Kiechle SJ ist 1982 in den Jesuitenorden eingetreten und wurde 1989 zum Priester geweiht. Er war von 1998 bis 2007 Novizenmeister und hat in verschiedenen Aufgaben in der Hochschulseelsorge und Exerzitienbegleitung gearbeitet. Von 2010 bis 2017 war er Provinzial der Deutschen Provinz der Jesuiten. Er ist Delegat für Ignatianische Spiritualität und Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Stimmen der Zeit".

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